: Rushdie an Gandhi
Nach dem Verbot seines Buches in Indien schrieb Rushdie: „Erst lesen, dann verurteilen!“ ■ D O K U M E N T A T I O N
Lieber Rajiv Gandhi,
am 5.Oktober hat das indische Finanzministerium meinen Roman The Stanic Verses verboten - gemäß Artikel elf des Zollgesetzes. Viele Menschen rund um die Welt werden sich wundern, daß es das Finanzministerium ist, das zu entscheiden hat, was die indischen Leser lesen dürfen und was nicht. Doch vergessen wir das (...)
Das Buch wurde verboten, nachdem zwei oder drei Muslims vorstellig geworden waren, darunter Syed Shahabuddin und Khurshid Alam Khan, beide Parlamentsabgeordnete. Diese Personen, die Extremisten, ja Fundamentalsten zu nennen ich nicht zögere, haben mich und meinen Roman angegriffen und zugleich gesagt, sie bräuchten es wirklich nicht zu lesen. Daß die Regierung solchen Figuren nachgegeben haben soll, ist erschütternd (...)
Ebenso wie meine eifernden Opponenten werden Sie wahrscheinlich Die Santanischen Verse nicht gelesen haben. Deshalb lassen Sie mich ein paar einfache Dinge erklären. Ich werde beschuldigt, „zugegeben“ zu haben, daß das Buch ein direkter Angriff auf den Islam ist. So etwas habe ich nicht zugegeben und bestreite dies auch energisch. Im fraglichen Teil des Buches (und lassen Sie uns daran denken, daß das Buch eigentlich nicht vom Islam handelt, sondern von Metamorphose, vom gespaltenen Selbst, Liebe, Tod, London und Bombay) geht es um einen Propheten - der nicht Mohammed heißt -, der in einer höchst phantastischen Stadt lebt, die aus Sand gebaut ist (sie löst sich auf, wenn Wasser auf die fällt).
Er ist von fiktiven Anhängern umgeben, von denen einer zufällig meinen Vornamen trägt. Darüber hinaus spielt diese gesamte sequenz in einem Traum - dem fiktiven Traum eines fiktiven Charakters, eines indischen Filmstars, und zwar eines, der dabei ist, seinen Verstand zu verlieren. Wie könnte man sich denn noch weiter von der Geschichte entfernen?
In dieser Traumsequenz habe ich versucht, meine Sicht des Phänomens der Offenbarung und der Geburt einer großen Weltreligion darzustellen; meine Sicht ist die eines säkularen Menschen, für den die islamische Kultur sein ganzes Leben lang von zentraler Bedeutung gewesen ist.
Kann das Finanzministerium wirklich bestimmen, daß es im modernen, angeblich säkularen Indien der Literatur nicht erlaubt ist, solche Themen zu behandeln? (...)
Sie wissen so gut wie ich, daß es eigentlich um die muslimischen Wähler geht. Ich bedauere zutiefst, daß mein Buch als politischer Fußball gebraucht wird (...) Ich stelle Ihnen die Frage: Was für ein Indien wünschen Sie zu regieren? Wird es eine offene oder eine repressive Gesellschaft sein? (...)
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