: Mißbrauch von (Asyl-)Zahlen
Seit Jahren sind sie ständiger Konfliktpunkt: die Zahlen, die konservative Politiker als Kronzeugen für „Asylantenflut“ und „Asylmißbrauch“ bemühen. Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Wohlfahrtsverbände und der Hohe Flüchtlingskommissar der UNO haben in der Vergangenheit immer wieder nachgewiesen, daß es in den Statistiken des Bundesinnenministeriums von Doppelzählungen nur so wimmelt.
Man operiere im Hause Zimmermann eher mit einer „Geisterarmee“ als mit schlüssigen Zahlen, so beschrieb der FDP-Innenpolitiker Hirsch bei der Asylanhörung am Montag die Situation. Glaubwürdige statistische Angaben, wie viele Flüchtlinge tatsächlich in der Bundesrepublik leben, konnte das Innenministerium denn auch auf dem lange vorbereiteten Hearing des Innenausschusses nicht vorlegen. Doch selbst die eher nach oben frisierten amtlichen Statistiken rücken das Bild von den „Scheinasylanten“ in ein anderes Licht.
Ende 1988, so die „Schätzungen“ des Bundesinnenministeriums, lebten 800.000 ausländische Flüchtlinge in der Bundesrepublik. Hinter dieser überraschend hohen Zahl verbergen sich jedoch unter anderem 36.400 heimatlose Ausländer, die als Opfer von Zwangsarbeit und -vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik geblieben sind. In der Statistik enthalten sind die Familienangehörigen von den 80.000 als politisch verfolgt anerkannten Flüchtlingen in der Bundesrepublik. Sie werden pauschal auf 160.000 geschätzt. Ob diese Familienangehörigen aber tatsächlich hier leben, weiß auch das Bundesinnenministerium nicht. Es hat einfach auf jeden Asylberechtigten noch zwei Personen „draufgeschlagen“.
Die zahlenmäßig größte Gruppe in der Asylstatistik sind jedoch die sogenannten De-facto-Flüchtlinge. Auf 300.000 beziffert das Innenministerium die Zahl dieser Flüchtlinge. Ihr Asylbegehren ist zwar rechtskräftig abgelehnt, sie können aber dennoch aus humanitären, rechtlichen oder außenpolitischen Gründen nicht abgeschoben werden. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise die Tamilen aus Sri Lanka, Flüchtlinge aus dem Libanon und dem Iran sowie - mit Einschränkungen - auch die Asylsuchenden aus Polen, die bisher kaum zurückgeschoben wurden, weil eine Abschiebung in den „Ostblock“ nicht ins politische Weltbild der Bundesregierung paßte.
Die De-facto-Flüchtlinge sind zwar durch die immer enger gewordenen Raster des Asylanerkennungsverfahrens gefallen „Scheinasylanten“ aber sind die meisten von ihnen deswegen noch lange nicht. Schon die Tatsache, daß man Tamilen, Iraner oder Palästinenser zur Zeit nicht abschieben kann, weil sie sonst in einen anhaltenden Bürgerkrieg oder politische Unterdrückung zurückgeschickt würden, belegt, daß diese Menschen zumindest berechtigte Fluchtgründe haben.
Nimmt man die oben genannten, teilweise bloß geschätzten Gruppen aus den amtlichen Zahlenkolonnen heraus, dann reduziert sich die „Asylantenflut“ auf rund 200.000 Asylbewerber, deren Gesuche noch nicht entschieden sind.
Mit dieser Zahl, das muß man einräumen, steht die Bundesrepublik in Europa an der Spitze. Zwar kommt überhaupt nur jeder zwanzigste der weltweit auf 15 Millionen geschätzten Flüchtlinge nach Westeuropa. Doch für knapp die Hälfte der nach Westeuropa Flüchtenden ist die Bundesrepublik das Aufnahmeland. Mit 100.000 Asylsuchenden im vergangenen Jahr hat die Bundesrepublik dreimal soviel Flüchtlinge aufgenommen wie Europas Zufluchtsland Nummer zwei, Frankreich. Erst mit großem Abstand folgen dann die Schweiz und Österreich in der Statistik der Zufluchtsländer.
In der Rangliste der Aufnahmeländer steht sie auf Platz eins, bei der Anerkennungsquote der Asylgesuche ist die Bundesrepublik dafür das Schlußlicht. In Belgien werden fast 50 Prozent aller Anträge anerkannt, in Großbritannien mehr als 40 Prozent, in Frankreich fast ein Drittel.
In der Bundesrepublik ist die Anerkennungsquote in den letzten drei Jahren von fast 30 auf 8,6 Prozent gesunken. Dies wiederum wird von konservativen Politikern als Beleg für wachsenden Asylmißbrauch angeführt. Tatsächlich jedoch haben die Politiker an diesen niedrigen Quoten selbst mitgestrickt: eine großzügige Visaerteilung vor allem für Polen auf der einen Seite und andererseits fast unüberwindliche Einreisehindernisse für Flüchtlinge aus Asien und Afrika haben dafür gesorgt, daß sich die Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppen stark verändert hat (siehe Kasten). Kamen noch vor drei Jahren die meisten Flüchtlinge aus Sri Lanka, dem Iran, Libanon oder der Türkei, so stammen heute gut zwei Drittel aus dem europäischen Raum. Mehr als die Hälfte der Asylsuchenden kam 1988 aus Ländern des sogenannten „Ostblocks“, allein fast ein Drittel reiste mit einem polnischen Paß ein. Chancen, anerkannt zu werden, haben diese Asylantragsteller kaum, das weiß auch die Bundesregierung und erteilt dennoch weiter Einreise visa und zögert mit Abschiebungs androhungen.
Mit der Verschärfung des Asylverfahrensgesetzes und deutlichem Druck auf das für Asylanerkennungen zuständige Bundesamt hat die Bundesregierung ein zweites Instrument geschaffen, um die Anerkennungsquote herunterzudrücken. 1980 zum Beispiel wurden noch 75 Prozent aller Flüchtlinge aus Afghanistan als asylberechtigt anerkannt. Acht Jahre später waren es, obwohl sich der Krieg dort eher verschärft hat, nur noch 26 Prozent. Flüchtlinge aus Äthiopien galten noch 1984 zu 87 Prozent als politisch verfolgt. 1988 lag die Anerkennungsquote nur noch bei 16 Prozent, ohne daß der Terror der Zentralregierung gegen die Eritreer auch nur um einen Deut abgenommen hätte.
Und noch auf andere Weise haben Politiker die Zahl der abgelehnten Asylbewerber in die Höhe getrieben: Weil sie für Asylsuchende einen erhöhten Bundeszuschuß zur Sozialhilfe bekommen, haben die Kommunen auch allein eingereiste Kinder und Familienangehörige von Asylsuchenden ins Asylverfahren hineingedrängt - obwohl von vornherein klar war, daß keine Chance auf Anerkennung bestand.
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