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StaSi bespitzelt Trauergäste auf Friedhof

■ Die Beerdigung des beim Fluchtversuch erschossenen DDR-Bürgers Chris Gueffroy gerät in Ost-Berlin zum Politikum / Der Begräbnisredner: „Jugend kennt keine Konzessionen“ / 120 Menschen nehmen Abschied vom Toten / Kein Dementi von Honecker

„Im Moment hab‘ ich hier noch nichts liegen“, meint der Kollege von der DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ am Telefon, „und ob da noch was kommt, dazu kann ich gar nichts sagen.“ Ein paar Kilometer weiter hat ein Begräbnisredner auf dem Ostberliner Friedhof Baumschulenweg ebenfalls Schwierigkeiten, die Dinge beim Namen zu nennen. „Die Jugend kennt keine Konzessionen!“ zitiert er sybillinisch den Dichter Joseph Freiherr von Eichendorff. Dem diese letzten Worte gelten, und über den der 'adn'-Kollege „gar nichts sagen“ kann, wurde in der Nacht vom fünften auf den sechsten Februar an der Berliner Mauer von DDR-Grenzsoldaten getötet. Sein Name ist Chris Gueffroy, er war 20 Jahre jung, gelernter Kellner. Als er nachts schwimmend durch die Spree flüchten wollte, wurde er erschossen.

Rund 120 Menschen versammelten sich gestern nachmittag auf dem Friedhof, um sich von Gueffroy zu verabschieden. Das letzte Geleit war keine private, intime Veranstaltung; es war ein Politikum. Während die einen weinend Erde in das kleine Urnengrab warfen, machten sich andere aus einiger Entfernung Notizen über das Geschehen. Vorher hatten die StaSi-Beamten sogar die Personalien einiger Friedhofsbesucher notiert. Der professionelle Trauerredner: „Chris hat viele Träume und Pläne gehabt. Ihm hat Bedächtigkeit und Aussprache gefehlt: Sonst wäre alles anders verlaufen.“ Die banale Bemerkung, daß Gueffroy und seine Freundin Katrin „so viele Hoffnungen hatten“, tröstete die junge Frau nicht.

Ein junger Monteur, der Chris Gueffroy gar nicht kannte, war wie viele andere „aus Solidarität“ gekommen. Am Dienstag hatte er in der 'Berliner Zeitung‘ die Traueranzeige der Familie gelesen; da war von einem „tragischen Unglücksfall“ die Rede. Die Insider aber wußten Bescheid: Ein Synonym für Todesschüsse. Zu lautstarkem Protest kam es nicht auf dem Friedhof.

In Bonn ging derweil alles seinen für solche Ereignisse vorgesehen Gang. Der Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in der Bundeshauptstadt wurde ins Kanzleramt bestellt und ein bißchen ausgeschimpft. In der Hauptstadt der DDR trafen sich Lothar Späth und Erich Honecker, - der Ministerpräsident aus Baden-Württemberg ist gerade zu Besuch. Honecker kündigte zum einen Erleichterungen im Reiseverkehr an; zum anderen betonte er, daß es keinen Schießbefehl gebe. Daß durch Schüsse an der Mauer jemand umgebracht worden war, dementierte er nicht. Honecker wies darauf hin, daß er den Vorgang überprüfen lasse. Im übrigen sei er für westliche Pressemeldungen über Vorgänge an der Mauer nicht verantwortlich.

Über Gueffroy verbreiteten die westlichen Presseagenturen gestern nur Gutes. Schließlich ist er tot. Er sei ein guter Turner und „überall beliebter Bursche“ gewesen. Das können wir nicht überprüfen. Fakt ist: Am selben Tag, als Gueffroy beerdigt wurde, bestreitet der Staats- und Parteichef Erich Honecker den Schießbefehl. Während Späth die Interessen des Kapitals in der Hauptstadt vertritt, kontrollieren Stasi -Beamte den Friedhofseingang. Und der Kollege von ADN, der vielleicht ein netter Kerl ist, „kann dazu gar nichts sagen“. Siehe auch Seite 2.

Stefan Schönert/ap

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