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COMPUTERCHORÄLE

■ Ghedalia Tazates in der Reihe „Geographie Musicale“

Nicht daß es nichts mehr zu feiern gäbe. In diesem Jahr bietet sich die Französische Revolution an, um in ihrem Namen Kultur zu exekutieren. Das Institut Francaise, die Freunde Guter Musik und das Kunstamt Kreuzberg bilden ein Tribunal, das dem Berliner Bürger die moderne oder gar revolutionäre Musik aus Frankreich demonstrieren soll, und zwar in diesem Fall mit einer vierteiligen Konzertreihe in Sachen „Nouvelle Music“ mit dem Titel „Geographie Musicale“ im Ballhaus Naunynstraße und in der Akademie der Künste dieses Wochenende und nächsten Donnerstag und Freitag.

Zu den Errungenschaften der Revolution und der damit einhergehenden Blüte des Kapitalismus gehören natürlich auch seine überseeischen Besitztümer, abfällig als Kolonien tituliert. Aus diesen in den letzten Jahren in die vermeintliche Unabhängigkeit entlassenen Beutestücken der Imperialisten strömen nun vermehrt Bürger, in diesem Fall „Ausländer“ genannt, in die „Mutterländer“. So wie Holland seine Indonesier und Molukker hat, so haben die Franzosen die Algerier. Und den entsprechenden Haß auf sie, mit dem man herrlich von der hausgemachten Misere ablenken kann.

Im Kulturbereich haben sich in den letzten Jahren Mischungen der verschiedensten Traditionen ergeben, so enstand in Frankreich die Rai-Musik als Ausdruck des Lebensgefühls der exilierten und verfolgten Algerier. Ghedalia Tazates aus Algerien, der den ersten Konzertabend am Donnerstag bestritt, ist ein Vertreter dieser Generation, dessen Musik aber nur bedingt etwas mit Rai zu tun hat.

Er steht allein mit einem kleinen Akkordeon auf der Bühne des Ballhauses. Aber ganz so einsam, wie es zunächst scheint, geht es hier nicht zu. Er singt mit heftiger Stimme seine Choräle, jiddische Klagelieder oder einfach ein Murmeln, Grummeln oder Schreien. All dies wird mit einem Playback-Gerät gespeichert und wahlweise abgerufen, außerdem läuft irgendwo gut versteckt ein Tonband, auf dem verschiedene Schlagzeugrhythmen gespeichert sind. Ein Titel heißt: „Magie eines Revox-Tonbands über quasi-physischen Klängen.“ Tazates kann sich so selbst begleiten, es entsteht der Klangeindruck einer ganzen Band inklusive Chor, manchmal meint man, fremde Rufe zu hören, dann wieder das mechanische Wimmern des Akkordeons, Trommeln von weit her und einen gellenden Schrei. Aus, nächstes Tape, von neuem werden Gesänge aufgenommen, widerholt, gelöscht und doch wieder hervorgezaubert. Der Künstler macht sich im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die Methoden seiner Reproduktion zu eigen. Das Sampling-Verfahren, Speichern und unendlich häufiges Abrufen von Informationen, und nichts anderes sind Töne für einen Computer, wird zum tragenden Bestandteil der Musik. Die nächste (dann nicht nur französische) Revolution findet im Computer statt.

Andreas Becker

Nächstes Konzert: heute in der Akademie der Künste 20.30 Uhr mit Hector Zazou und Ensemble Geometrie.

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