: Ein echter Kunzelmann
■ Satanische Betrachtungen eines blinden Passagiers während der abenteuerlichen Überfahrt des Lastenseglers „Rotgrünes Chaos“ von den Ufern der Spree ins Bermuda-Dreieck
Als am 11. Februar die MitgliederInnen der AL ohne Aussprache einer in ihrer undurchsichtigen Proporz -Zusammensetzung fragwürdigen Verhandlungskommission en bloc das Vertrauen aussprachen, war dies - um das Niveau alternativer Gesellschaftsanalyse nicht zu verletzen „schon irgendwie verrückt“. Nach gutem, politischem Stil hätte die Kommission selbst die Einzelabstimmung fordern müssen, doch die Angst vor dem Verlust künstlicher Harmoniebastelei ließ das Drahtgeflecht des herrschenden AL -Milieus zusammenschweißen. So entstand die moderne, für den Skulpturenboulevard geschaffene Klein-Plastik „Graue Mäuse bei Kotau im Keller der Müllerstraße“. Ausdrucksstark spiegelt das Kunstwerk eine Verhandlungskommission wieder, welcher die Droge „Koalitionsrausch“ nicht nur verdealt, sondern auch selbst einwirft. Nicht verwunderlich, daß die traditionsreichen Machtstrategen mit dem unverwechselbaren SPD-Stallgeruch leichtes Spiel haben, ihr alter ego so über den Tisch zu ziehen, daß jenes es kaum bemerkt.
Seit Beginn der Verhandlungen spielen die SPD-Profis die AL -Laienspielschar an die Wand. Bar jeglichen politischen Selbstbewußtseins richtet sich die AL in der kleinbürgerlichen Häuslichkeit von Bittstellerei wohlig ein. Bitte nicht stören, wir regeln das schon für Euch. Kaum sind abrißreife Treppen überstolpert, steht die Gouvernante SPD am morschen Türpfosten und verteilt Maulkörbe. Das AL-Milieu keucht immer hinterher, kurz vor der Dopingkontrolle bricht es zusammen.
Von Beginn der Verhandlungen an sammelt das Vogel/Momper -Team Aktiva auf das Konto „Schuldzuweisung“ für das eingeplante Scheitern von Rot-Grün. Einzahlungen auf das nötige Polster für Neuwahlen leistet eine AL im Spendierröckchen. Und die SPD kommt - bewährte Praxis aus sozialliberalen Koalitionen - billig darum herum, das eigene Parteiprogramm umsetzen zu müssen. Derweilen übt sich der Delegiertenrat gekonnt in beschäftigungstherapeutischen Debatten über dilettierende „führende PolitikerInnen“ (wenn schon in alle Fettnäpfchen, dann mit lustvoller Grazie), statt inhaltliche und organisatorische Vorgaben nach innen und Aufbruchstimmung nach außen zu signalisieren. Er nimmt nicht einmal seine demokratischen Kontroll- und Informationsrechte über das wuchernde Kommissionsunwesen wahr, läßt sich aber begeistert abspeisen mit der neuen politischen Delikatesse, übrigens in einer nur noch psychoanalytisch deutbaren nekrophilen Terminologie : „Die Scheiße zu schlucken und dann wieder auszuspucken“. Wie dies ohne Kotzen? Buon‘ appetito!
Vielleicht verhält es sich auch nur so, daß das AL-Milieu mit der Suche nach Agenten des Verfassungsschutzes im eigenen Haus derart beschäftigt wird, daß es die quirlig -karrieristischen SPD-ZuarbeiterInnen völlig übersah. Dies wäre dann auch die einzig stichhaltige Erklärung für den tristen Tatbestand, daß diese SPD keine drei Hürden überspringen mußte: verläßliche Absage an die Wiederherstellung des berühmt-berüchtigten SPD-Filzes; Distanzierung von 20 Jahren Staatsterrorismus; glaubwürdige Selbstkritik über das Scheitern von mehr als 40 Jahren SPD -Stadtpolitik, über den Abriß der Mahnmale des Faschismus bis zur Ghettoisierung großer Teile der Bevölkerung.
Die frohlockende Schadenfreude des „Wir haben es ja schon immer gewußt“ ist Fehl am Platze und macht die Gesichter in den mediokreten Gremien der AL nur noch verhärmter. Nicht wenige scheinen Geburt mit Beerdigung zu verwechseln.
Denkpause oder neuer Aufbruch war mein Petitum vor Jahresfrist. Das eine wollte niemand (wer riskiert auch schon gerne ein nichts. sezza), und das andere haben pfiffige BerlinerInnen auf die Tagesordnung gesetzt. Statt Smog soll nun Rot-Grün als begeisternde Metapher über der Stadt schweben, statt stickiger Parteiräson frische Frühlingswinde. Wer aus einsichtigen Gründen in den vergangenen Jahren Abstand zur AL genommen hat, der ihn schon immer hatte, muß sich einmischen. Politische Erfahrung, geistige Anstöße, andere Horizonte, Utopien und Visionen, Träume und ihre Verwirklichung liegen in unserer Stadt auf der Mauer, auf der Lauer und in der Luft. Die „Lebensfähigkeit“ von Berlin-West garantieren nicht Mompers drei Gallensteine, sondern garantiert einzig und allein die radikale Umkehr der herrschenden Verhältnisse. Bei diesem atemberaubenden Wagnis, eine kaputte Teilstadt in apokalyptischen Zeiten mit Würde, Kreativität und Humanitas ins nächste Jahrtausend zu retten, im Abseits stehen zu bleiben, verhindert politische Zukunft. Nicht mehr und nicht weniger steht an, als das öffentliche Farbebekennen von 20 Jahren Protestbewegung.
Es geht bisweilen auch voran. Der nicht mehr verhandelbare große Wurf der AL-Personalfindungskommission ist gelungen: Salman Rushdie Kultursenator, Bertram als Bausenator (bei seiner Frühentlassung fand er die Worte: „Ich kann jetzt für Berlin noch billiger bauen, da die Schmiergelder wegfallen!“), Schattenwirtschaftssenatorin und Bürgermeisterin..., weitere Namen sind noch nicht zur Veröffentlichung freigegeben, sonst trifft sich Walter Momper zum dritten Stelldichein mit Hanna Granata im „Hotel Berlin“.
Die Vorgeplänkel sind abgelaufen, in sechs Tagen macht das Diebchen und sein Ringverein plumps. Eine in 25 Jahren gewachsene oppositionelle Bewegung wird Regierungspartei. Ich bin entschieden für die von Bankdirektor Klaus-Rüdiger Barschelowsky kreierte „Koalition des Irrsinns“. Schlimmer als der bisherige Irrsinn kann es ja wohl nicht werden. Und die erste gemeinsame Tat des rot-grünen Senats wurde gestern abend ausgemauschelt: Feierlich wird über dem Portal des Schöneberger Rathauses, noch vor Verabschiedung des Haushaltes, das eingemeißelte Motto eines einflußreichen Geheimbundes enthüllt: Zwischen Wahsinn und Verstand
liegt nur eine dünne Wand
Dieter Kunzelmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen