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AUSGESPUCKTE ZEIT

■ Ein Konzert von „Schwefel“ und „Sandow“ in Ost-Berlin

Vergangener Montag. Kai-Uwe Kohlschmidt (kein neudeutsches Pseudonym), Leadgitarrist und Frontmann der mittlerweile auch in der DDR durch den Film „Flüstern und Schreien“ bekanntgewordenen, legendären Pop-Indie-Formation „Sandow“, im Treptower FDJ-Jugendclub „Gerard Phillip“. Fans aus der ganzen Republik drücken sich eine Stunde vor Einlaß an der verschmierten Tür des für seine hochkarätigen Gigs als Geheimtip gehandelten Sub-Rock-Domizils die Punknasen platt. „X-Mal“ heißt die Veranstaltungsreihe der mutigen Organisatoren. Alle vier Wochen nennt sich das ganze „X-Mal Plus“, dann kommt nicht nur das Equipment, sondern auch eine Band aus dem Westen.

„Sandow“ tritt an gegen die bundesdeutsche Glam-Glitter -Formation „Schwefel“. Cottbus meets Mannheim in East-Berlin im stickigen Heizungskeller des Clubs, währenddessen das Quartett aus Cottbus samt buntscheckiger Horde die Bühne belagert. „'Backstage‘? keine Zeit. Ich muß erstmal mit Bert, Susie und Meckie kontakten...“

Noch bevor die erste Karte verkauft ist, hat das Happening seinen Lauf genommen. Der Bandclan feiert Wiedersehen. Als die offizielle Fan-Gemeinde den turnhallengroßen Saal erobert, hat der Run auf die Stars längst begonnen. Und die Stars heißen „Sandow“. Ungewohnte Spannung macht sich breit. Ist keiner wegen „Schwefel“ hier? „Klar doch. schon. Auch. Kenn‘ ich ja. Des öfteren gehört. Im Radio und auf Kassette. Mal sehen. Ich schätze, die werden schlechte Karten haben“, grinst ein Kurzgescheitelter tolldreist, stiefelt zur Theke. „Sekt-Curacao. Fünfmal.“

Grell wie die Longdrinks auch das Volk um die bierlose Bar. Laut gestikulierend, steigen Stimmung und Geräuschpegel, noch ehe der eingeforderte Alkohol sich breitmachen konnte. Was haben die Leute einander bloß alles zu sagen? Wie willst du da mitkommen? Man klärt mich auf. Der Osten sei eben schneller, könne sich das erlauben, weiß, daß die Grenzen der Kurzlebigkeit weiter gesteckt sind. Im Osten mehr Platz für Beschleunigung? Also nicht alles langsam und eng? Ein Paradoxon. Überhaupt „der Osten“. Unser braves Bild von den Dummis, die da nur auf uns warten, uns, die neuen Onkels und Tanten mit ihren rührenden Frisuren und Geschenken, aus allen Poren Weltoffenheit und Freiheit ausatmend. „Wir sind keine Schnorrer mehr. Und ihr tut richtig, hierher zu kommen.“ - „Selbstbewußtsein ist eine notwendige Vorstufe von Humor“, sagt Bert. Sein Humor zieht aus. Hemd und Hose. Nike und Armani. Hier wie dort.

Ein Gerücht macht die Runde. Im weithin erhältlichen Vogelfutter Marke Ost fehlen neuerdings nicht nur Jod-S11-, sondern auch die Hanfkörnchen, beliebter Grundstock für heimische Blumenpracht. „Daß Dope hier längst out ist, brauch‘ ich dir ja wohl nicht auch noch zu erklären“, fordert unmißverständlich der wasserstoffblonde Skin vis a vis. „Deine schwarz-rot-goldenen Hosenträger...“, mein tölpelhafter Versuch, die Kommunikation fortzusetzen, „...was haben die zu bedeuten? Ich meine, so auf Anhieb weiß man ja nicht...“ - „Was hättest du denn gern. Schwarz. Rot. Oder Gold. Mit Braun kann ich jedenfalls nicht dienen“, klärt der sensibel gewordene Granitblock auf.

Noch vor fünf Jahren hätte eine Veranstaltung wie diese mit ihrer geballten Ansammlung von schrillen Müßiggängern und Ost-Provos einen Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten gefordert; seit gut einem Jahr gehören die festen Treffpunkte der Extreme zur Alltäglichkeit. „Auseinandersetzungen gibt es nur selten. Die Szenen respektieren sich, wissen genau, jede Prügelei läutet das Ende des Abends ein“, betont der Organisator. „Im Gegenteil: Früher randalierten die Leute auf den Straßen, galten als Zombies - heute reagieren sie sich hier ab.“ Ganz „oben“, so wird gemunkelt, sei man mit dem Versuch der Integration problematischer Subkulturen zufrieden. Wie auch posthum der Sechziger-Jahre-Generation wird den heutigen Outlaws ihre Protest- und Oppositionshaltung schlichtweg abgesprochen. „Die Generation der Pogo-Tänzer hat keine fertige Lebenskonzeption. Aber war es überhaupt je so, daß Leute zwischen 14 und 25 genau wußten, wohin mit sich?“

An Artikulationsschwierigkeiten mangelt es „Sandow“ nicht. Die scharfen Riffs der gitarrenorientierten Formation schneiden in die Menge. Ein Frühjahrsgewitter gegen Graustaub. Kai-Uwe hastet nach Luft, artikuliert scharf, schreit gegen Gleichgültigkeit, starrt melancholisch über die Köpfe ins Leere. „Ausgespuckte Zeit“. Bis auf einen kochenden Pogo-Haufen an der Bühnenfront ruhige kritisch -interessierte Gesichter. Eine weitere Erfolgsband des neuen ostdeutschen Rockbooms, „Die Skeptiker“, leihen der jungen Szene den rechten Namen. Vorgefertigte Konzepte, Idole sind passe. „Antworten bitte erst, wenn die Fragen gestellt wurden. Der Inflation der Antworten muß eine Inflation der Fragen folgen.“

Bert ist nach der Arbeit in der Bäckerei drei Stunden mit der Reichsbahn „hierhergerollt“. „Im Kern wegen 'Schwefel'“, wie er meint, „'Sandow‘ kenn ich ja von zu Hause.“ Ein halbes Jahr hatten die Verhandlungen des „Schwefel„ -Managements (Amigo) mit der Bürokratie gedauert, bis alles unter Dach und Fach war, „für Ost-Mark versteht sich. Nichts anderes als bei Springsteen“, juxt die Truppe, wohlwissend, daß auf jenen dereinst eine fiebernde Ansammlung wartete.

Niemand schreit nach „Schwefel“. Macht nichts. Nach drei Stunden Unsicherheit springt der Funke über, die biederen Glasleuchten an der Resopaldecke beginnen zu beben. Norbert Schwefel zischt ins Volk, windet die Stimmbänder im kräuselnden Trockeneis. Die Dekadenz des glamourösen Geradeausrocks erfaßt die Ansammlung. Als Martin Buchholz mit bittersüßen Saxophonschüben die Skeptiker in Trance wiegt, ist der Gig gerettet. Ost sei Dank.

Krystof Rybczynski

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