: Kippendes Gleichgewicht
Jugoslawien in einer Staatskrise ■ K O M M E N T A R E
Die serbischen Nationalisten kämpfen das herbei, was sie verhindern wollen. Eine chauvinistische Repression verwandelt auch die mildesten Kosmopoliten in nationale Freiheitskämpfer. In der Vojvodina hat die Aufhebung des Autonomiestatus die ungarische Minderheit zwar ihrer konstitutionellen Rechte beraubt; ein Aufstandspotiential gibt es dort jedoch nicht. Im Kosovo hingegen stellen die Albaner über 80 Prozent der Bevölkerung. Ihre Vertreibung unter den Augen der Weltöffentlichkeit, ist gegenwärtig unmöglich. Ihre militärische Unterdrückung radikalisiert den Widerstand und ist langfristig chancenlos. Dabei wäre die Aufrechterhaltung der Autonomie Kosovos möglich gewesen, und selbst die Schaffung einer eigenen albanischen Teilrepublik innerhalb Jugoslawiens zu rechtfertigen. Das Großserbische Reich ist vor sechshundert Jahren untergegangen und kann heute keine territorialen Ansprüche ernsthaft legitimieren. Die ganze Entwicklung zeigt, wie dünn das jugoslawische Einheitsbewußtsein geworden ist. Der Partisan war ein gesamtjugoslawisches Identifikationsangebot; der Sozialismus versprach eine allmähliche, geplante Angleichung aller Landesteile nach oben; der Marxismus versprach die traditionellen regionalen und religiösen Unterschiede obsolet zu machen. Aber Angleichung und Reichtum kamen nicht, das Partisanenbild verblaßte, der Marxismus ist tot. So brechen traditionelle Unterschiede wieder auf und passen sich den neuen Gegebenheiten an.
Der Norden, Kroatien und vor allem Slowenien, fühlt sich benachteiligt und bedroht. Denn die Finanzmisere des Staates entstand mit dadurch, daß alle Republiken autonom Schulden aufnehmen konnten, die Rückzahlung aber dem Gesamtstaat, also dem Norden obliegt; der aber verdient das Geld. Dem entspricht ein Volksvorurteil: Der Süden gilt als faul, unverantwortlich und rückständig. Die historische Grenze zwischen Katholizismus und Orthodoxie, zwischen Österreich -Ungarn und dem Osmanischen Reich, zwischen Orient und Okzident wird so wieder bedeutsam. Die antideutschen Einstellungen, die das jugoslawische Staatsbewußtsein im Norden fundierten, sind einem „mitteleuropäischen“ Selbstwußtsein gewichen - mit allen politischen Konsequenzen. Ein übergewichtiges Serbien gilt damit als wirtschaftliche, politische und kulturelle Gefahr.
Der serbische Nationalismus reagiert einerseits auf diese Sicht und versteht sich als Garant der Existenz Jugoslawiens; er gibt andererseits die Vorurteile an die eigenen „Orientalen“, die Albaner, weiter. Daß sich auch Montenegro, Bosnien-Herzegovina und Makedonien eher auf die serbische Seite schlagen, hat seine Quelle in einer ähnlichen Furcht vor den moslemischen Minderheiten im eigenen Land. Vor allem aber müssen auch sie ein Auseinanderbrechen des Landes zwischen Norden und Süden fürchten, denn auch sie sind bitter arm.
Milosevic hat angesichts dieser Situation außer Emotionen, die auf ein Blutbad hinlenken, nichts zu bieten. Das Land, das eigentlich seine Wirtschaft sanieren sollte, könnte schon bald auseinanderfliegen. Seine Existenz hatte das Gleichgewicht gleichberechtigter Nationen zur Voraussetzung. Und das kippt nun.
Erhard Stölting
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