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Geistig behinderte Mutter mit Kind

■ Zum ersten Mal durfte im Rahmen der Bremer „Lebenshilfe“ eine geistig behinderte Mutter ihr Kind nicht nur gebären, sondern auch großziehen / Praktische Folge einer fünfjährigen Diskussion

Ein Novum in Bremen: Ein Kind wird geboren und nach der Geburt nicht automatisch seiner Mutter weggenommen. Ein Novum ist dieses Ereignis, weil die Kindesmutter „geistig behindert“ ist. Weil sie zudem nicht durch Sterilisieren ihrer Gebärfahigkeit beraubt wurde. Und weil die Bremer „Lebenshilfe“ sie in ihrem Kinderwunsch unterstüzt hat.

Fünf Jahre ist es her, seit die Frau, die im Februar stolze Mutter wurde, zum ersten Mal mit ihrem Kinderwunsch die Fachkräfte der Bremer „Lebenshilfe“ konfrontierte. Darunter auch Anne Vetter, die schließlich auch die „Wahnsinnsverantwortung“ übernahm. Die Mitarbeiterinnen machten der Frau klar, daß Kin

dererziehen mehr bedeutet als Babies zu schaukeln. Auch brachten sie die junge Frau dazu, die Pille zu nehmen. „Aber“, so Anne Vetter gestern zur taz, „es wurde ganz klar, daß kein Mensch sie zwingen kann, Verhütungsmittel zu nehmen“.

Für die „Lebenshilfe“ insgesamt ein brisantes Thema: Denn die älteren geistig behinderten Frauen sind meist aufgrund ihrer Erziehung so verklemmt, daß sie nicht einmal den eigenen Körper erfahren konnten. Die jüngeren Frauen wurden meist vor ihrer Volljährigkeit sterilisiert - mit dem Argument: „Daß sie so die Möglichkeit haben, ihre Sexualität auszuleben.“

Von unfreiwilliger Sterilisa

tion hält Anne Vetter nichts: „Es geht dabei sowieso nur um die Schwachen, die den Vorgang und damit auch den Geschlechtsverkehr überhaupt nicht übersehen. Jemand aber, der so mobil ist, diese Vorgänge für sich zu erfassen, und das ist gar nicht so einfach, dem kann ich auch klarmachen, wie die Pille funktioniert.“

Die Diskussion bei der Bremer „Lebenshilfe“ blieb zunächst rein theoretischer Natur. Eltern geistig behinderter Töchter reagierten auf das Thema mit völligem Unverständnis. Fürchten sie doch, daß ihre Töchter behinderte Kinder zur Welt bringen und daß sie als Großeltern „mit diesem Unglück“, das sie schon als Eltern nicht verwunden haben, er

neut konfrontiert sind.

Als die junge geistig behinderte Frau, die die Diskussion in Bremen in Gang gebracht hatte, nach Jahren sich wieder bei Anne Vetter meldete und von ihrer Schwangerschaft berichtete, mußten plötzlich praktische Entscheidungen fallen. Theoretisch waren die MitarbeiterInnen schon lange von dem Grundsatz überzeugt, „daß alles menschliche Leben gleichwertig ist, egal, ob es alleine zurecht kommt oder ob es Unterstützung braucht.“

Die praktische Entscheidung stand mehrmals auf der Kippe. Anne Vetter: „Wenn die Frau bei ihrem Kinderwunsch bleibt, dann sind wir in der Pflicht, uns gegen

über den Ämtern dafür einzusetzen, daß sie das Kind behalten kann. - Und wenn es denn so ist, muß das für uns auch verantwortbar sein, daß das Kind keinen Schaden nimmt.“

Im Herbst soll das Kind in eine Krippe kommen. Die Mutter will, wenn ihr Erziehungsurlaub zu Ende ist, wieder in einer Werkstatt des „Martinshofs“ arbeiten.

Barbara Debus

P.S.: Wer sich noch immer die Frage stellt „Ist das Kind denn gesund geboren?“, der und dem sei mit Anne Vetter erstens gesagt, daß „mit dieser Frage schon alles verkehrt wird“. Zweitens: Das Kind ist gesund. Geistige Behinderung ist in den wenigsten Fällen genetisch bedingt.

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