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Landwirtschaft startet entstalinisiert in neue Saison

Privatwirtschaftliche Genossenschaften jetzt zugelassen / Finanzministerium wollte neue Unternehmensform zunächst mal ausnehmen wie eine Weihnachtsgans  ■  Von Jürgen Schulz

Wenn dieser Tage der weißrussische oder ostsibirische Bauer hinausfährt, um seine Scholle zu bearbeiten, so ist dies die erste Ernteperiode, da er einem Kollegen ganz neuen Typus begegnen kann: Dem freien Genossenschaftsbauern. Es darf nunmehr auf eigene Kappe gewirtschaftet werden, privatwirtschaftliche Betriebe können staatlichen Sowjosen und Kolchosen, den Genossenschaften der alten Art, Konkurrenz bieten. Die neuen Unternehmensformen sind indes nicht jedermanns Freund.

Das neue sowjetische Gesetz über Genossenschaften, das am 1.Juli 1988 in Kraft trat, bricht mit sämtlichen Vorstellungen einer sozialistischen Planwirtschaft stalinistischer Prägung. Der georgische Diktatur hatte nach 1930 alle kooperativen Wirtschaftsformen unter staatliche Kuratel gestellt. 1934, auf dem 17.Parteitag der KPdSU, war er am Ziel: Seine Zwangskollektivierung der Landwirtschaft bedeutete eine „faktische Verstaatlichung“ , wie der amtierende sowjetische Ministerpräsident Ryschkow im Vorfeld der Gesetzesdiskussion feststellt.

Ryschkows Unmut ist durchaus verständlich. Noch heute leidet die Volkswirtschaft der UdSSR unter dieser administrativen Gängelung. In ihrem jüngsten Bericht zur wirtschaftlichen Lage geht die Sowjetregierung zwar von einem letztjährigen Wirtschaftswachstum von 4,4 Prozent aus, doch die Einkommen wachsen schneller als die Produktivität, so daß der Kaufkraftüberhang in der Bevölkerung erschreckend zunehme, weil zu wenige und oftmals qualitativ minderwertige Güter und Dinestleistungen angeboten würden.

Das verabschiedete Genossenschaftsgesetz soll nunmehr vor allem dem Agrar- und Dienstleistungssektor auf die Sprünge helfen, wo durch „Willkür“ und „grobe Entstellung“ der Leninschen Lehre die „Idee der Genossenschaften mit Füßen“ getreten worden sei, so Michail Gorbatschow höchstpersönlich.

„Wegen der mangelnden Anpassungsfähigkeit der Großbetriebe werden Reformen im staatlichen Sektor allein nicht für hinreichend gehalten, um kurzfristige Erfolge bei der Überwindung der Versorgungsmisere zu erreichen“, vermutet Ulrich Weißenburger vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in der Zeitschrift 'Osteuropa‘. Statt dessen sollen die kooperativen Zusammenschlüsse der neuen Art die Wünsche kaufkräftiger Konsumenten schneller erkennen und befriedigen. Anders als die traditionellen Kolchosen und Konsumvereinigungen können die GenossInnen fortan in Selbstverwaltung darüber bestimmen, was und wieviel sie produzieren. Überdies garantiert der Gesetzgeber die Unantastbarkeit des Gemeinschaftsvermögens und ihre betriebswirtschaftliche Selbständigkeit. Staatliche Reglementierungen sind demnach nur in der Preisgestaltung bei Staatsaufträgen, bei der Steuer- und Kreditpolitik oder der Abgabe für Naturressourcen möglich. Das Land können sich die Genossinnen und Genossen von den staatlichen oder halbstaatlichen Agrarbetrieben pachten.

Trotz der gut gemeinten Abstinenz des Gesetzgebers geriet seine Steuerpolitik recht bald in ein schiefes Licht. Ein Erlaß des Finanzministeriums, der drei Monate vor Verabschiedung des Genossenschaftsgesetzes verfügt wurde, sah bei der progressiven Einkommenssteuer einen horrenden Spitzensatz von 90 Prozent vor! „Wir geben uns Mühe, das Huhn zu rupfen, bevor es Eier zu legen beginnt“, monierten Kritiker in der vor Emotionen ohnehin nicht armen Debatte. Dieses erdrückende Steuerniveau, so hatte es den Anschein, würde die angestrebte Gleichbehandlung von staatlichen und selbstverwalteten Unternehmen von vornherein ad absurdum führen und die Genossenschaftsbewegung im Keim ersticken.

Letztlich lenkte der Ministerrat der UdSSR ein und versprach bis zu einer Neuregelung der Steuerparagraphen eine Gleichbehandlung von GenossenschaftlerInnen und staatlich besoldeten Werktätigen. Ulrich Weißenburger vom Westberliner DIW: „Um eine flexiblere Steuerpolitik zu ermöglichen, wurde der ursprüngliche Entwurf des Genossenschaftsgesetzes geändert. Die lokalen Sowjets haben jetzt das Recht, mit dem Ziel eines besseren Güterangebots oder aus preispolitischen Gründen die Gewinn- und Einkommenssteuer der Genossenschaften, ihrer Mitglieder und der sonstigen Beschäftigten zu vermindern.“

Fest steht, daß die entflammte Genossenschaftsbewegung - im letzten Jahr wurden viele Tausend dieser freiwilligen Zusammenschlüsse gemeldet - nicht nur Freunde besitzt. Besonders in lokalen Behörden sorgen sich um ihren Einfluß, seitdem aktenkundig ist, daß auch die traditionellen Genossenschaften, die Kolchosen, „entstaatlicht“ werden. Die rund 27.000 Kolchosen, sie erwirtschaften über ein Drittel der agrarischen Bruttoproduktion sowie die Hälfte des Getreideaufkommens, bildeten bislang - wie die staatlichen Sowchosen - einen Teil des Planungssystems. Zukünftig sollen auch sie selbständig Verträge abschließen, Untergenossenschaften bilden oder sogar Grund und Boden an Privatnutzer verpachten dürfen. Selbst die obligatorischen Staatsaufträge, eine vorteilhafte Umschreibung für Ablieferungspflicht, können sie fortan ablehnen, wie die 'Prawda‘ betonte. Den Kolchos-Mitgliedern obliegt es außerdem, zu entscheiden, ob sie einer übergeordneten Koordinationsstelle angehören wollen.

Starker Tobak für machtbewußte Funktionäre vor Ort, die mitunter nicht davor zurückschreckten, genossenschaftliches Eigentum für zweckfremde Vorhaben abzuziehen.

Mit den neuen GenossInnen erwächst auch den Staatsbetrieben ungeahnte Konkurrenz, obwohl ihnen der Wind des „neuen Denkens“ schon seit geraumer Zeit gehörig ins Gesicht bläst. Gorbatschows Initiative sorgt nämlich bei den Arbeitskräften für sektorale Mobilität, soll heißen: Wenn sich ein Werktätiger von einer Arbeitsstelle im kooperativen Bereich mehr Geld verspricht, kann er überwechseln.

Gegenwärtig mag dies ja noch im Sinne des Erfinders sein, schließlich schätzen Experten die Zahl der im Staatssektor oder der Verwaltung Entlassenen auf über eine Million allein im ersten Halbjahr 1988. Dennoch stellt das verabschiedete Genossenschaftsgesetz beileibe keine Garantie für das ökonomische Überleben dar. Wie die staatlichen Pendants, so müssen auch die Kooperativen zukünftig Gewinn erwirtschaften und ihre Profite sinnvoll (re)investieren. Unrentable Betriebe, daran lassen die führenden Wirtschaftspolitiker keinen Zweifel, werden dichtgemacht - hier wie dort.

Noch fürchten Fachleute wie Weißenburger, daß die Genossenschaften, „die wichtigste Gesellschaftsform für freie und schöpferische Tätigkeit der Bevölkerung“ (Ryschkow), mit Startschwierigkeiten rechnen müssen: „Der Erolg des Gesetzes wird in erster Linie davon abhängen, ob sich genügend qualifizierte Arbeitskräfte finden, die bereit sind, das Risiko einer Genossenschaftsgründung auf sich zu nehmen und ob ihnen ausreichend Kapital zur Verfügung steht.“

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