Macht Macht Macht!

■ Olaf Arndt und Malte Ludwig unterhielten sich mit Hubert Selby

Hubert Selby: Vor allem die ethnische Struktur hat sich verändert. Wo früher hauptsächlich Iren, Engländer und Italiener wohnten, leben heute Orientalen, Puertoricaner und Schwarze. Einige weitere Unterschiede an der Oberfläche, aber besonders diese Gegend ist ziemlich gleich geblieben. Krankheit und Offenbarung

Wie sind Sie überhaupt zum Schreiben gekommen?

Es gab eine Reihe von Ereignissen. Mit 15 verließ ich meine Familie und ging zur See. 1946, als ich 18 war, hatte man mich in Bremen, was hier irgendwo in der Nähe liegt, vom Schiff geholt und mir gesagt, ich hätte nur noch zwei Monate zu leben. Dreieinhalb bis vier Jahre war ich im Krankenhaus, ein paar Mal von den Ärzten schon aufgegeben, egal, um es kurz zu machen: Im Krankenhaus begann ich zu lesen. Dabei bekam ich Lust zu schreiben. Dann hatte ich eine Offenbarung: Mir wurde klar, daß ich sterben würde und vorher zwei Dinge passierten. Nummer eins: Ich werde mein gesamtes bisheriges Leben bereuen. Nummer zwei: Ich will mein Leben neu leben und erst dann sterben. Das ist eine wirklichere Erfahrung, als man sie in einem gewöhnlichen Zustand sonst haben kann. Das erschreckte mich. Ich kaufte eine Schreibmaschine ohne eine Idee für eine Geschichte oder sonstwas. Ich saß wochenlang vor der Maschine, ich war arbeitsunfähig, und meine Frau verdiente das Geld. Nach diesen Wochen schrieb ich jemandem einen Brief, diese Person antwortete, und ich schrieb zurück, und das war der Anfang. Ich warf alles weg, was ich bis dahin geschrieben hatte. Ich überlegte mir ein paar Tage lang, was Schreiben eigentlich für mich bedeutet, prüfte mich. Dann schrieb ich mein erstes Buch. Lektüre

Hat Sie das, was Sie im Krankenhaus gelesen hatten, dabei beeinflußt?

Dort hatte ich hauptsächlich Krimis gelesen, alles von Mickey Spillane bis zu S.S. van Dine. Aber auch fünf Dialoge von Platon und Ein Mann im Universum von Aristoteles. Ich bin ja, seit ich 15 war, nicht mehr zur Schule gegangen.

Sie sind auf einem literarisch sehr hohen Niveau eingestiegen...

Daran habe ich sechs Jahre lang jede Nacht gearbeitet. Nach der Krankenhauszeit habe ich natürlich andere Autoren gelesen: William Carlos Williams, Ezra Pound, Anatole France, Celine, Genet, eben jeden. Ich ging mit Dichtern und Schriftstellern herum, und wir redeten. Wenn ich heute in das Buch schaue (Last Exit to Brooklyn), dann denke ich, Jesus Christus, das ist schon was für einen Anfänger. Das war viel Arbeit.

Uns scheint, es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen Ihren Protagonisten und ihren Lesern...

Vielleicht!! Das kommt darauf an, ob Sie meinen, wie diese Leute leben oder wie sie denken. Was das Denken angeht, ist der Unterschied nicht so gewaltig.

Entsteht dadurch nicht so etwas wie eine Zoosituation, eine Ausstellung von Abnormitäten?

Absolut nicht! Es handelt sich in gar keinem Fall um eine Zurschaustellung. Es sind auch keine literarischen Typen - das ist der Grund, warum das Buch heute noch zieht: Es sind wirkliche Figuren, die ihr Leben, ihre Frustrationen und Träume leben, wie beschränkt und gewalttätig auch immer sie sein mögen. Einige Leser mögen sich daher ihnen überlegen fühlen. Aber das tun sie nur, weil das wirkliche Personen sind. Es ist keine soziologische Abhandlung, sondern ein Roman über die Realität dieser Menschen.

Hat sich das in Ihren späteren Büchern geändert, zur Fiktion hin verschoben?

Nein, schon Last Exit war Fiktion. Ich hing in der Gegend rum mit den Leuten, die in dem Buch vorkommen, und sie lasen es und sagten: Das ist nicht wahr, so ist das nie passiert.

Sollen die Leser durch die Lektüre auf ihre eigenen inneren Deformationen gestoßen werden?

Nein, grundsätzlich bin ich nur an der Perfektionierung meiner Erzählungen interessiert. Mein Ansatz ist, den Leser durch eine Gefühlserfahrung zu schicken. Wenn Sie lediglich eine gute Geschichte hören wollen, gehen Sie an irgendeine Straßenecke, denn dort werden sie erzählt. Moral der Erzählung

Verbirgt sich hinter der „neutralen“ Erzählposition eigentlich ein moralischer Anspruch - viele Rezensenten scheinen danach zu suchen.

Den muß man nicht suchen. Jedermann wird seinen eigenen Anspruch in das Buch projizieren. Etwas, das ich sehr früh feststellte, war, daß die grundlegende Verantwortlichkeit eines Autors darin besteht, sein Ego loszuwerden. Um das zu erreichen, mußte ich mich auch aus den Büchern rauskriegen. Ich stellte nämlich fest, daß ich ein frustrierter Lehrer und frustrierter Prediger war. Ich darf mich nicht zwischen Werk und Leser stellen. Da alles durch mich hindurchgeht, fehlen meine Wahrnehmungen natürlich nicht im Geschriebenen, wie angestrengt ich auch versuche, mich hinauszuwerfen.

Manche Leute scheinen die Härte ihrer Geschichten nur mit einer darin versteckten moralischen Botschaft rechtfertigen zu können, sie gehen davon aus, daß die Welt so schlecht nicht ist...

Das sind die typischen Bibliothekshocker. Jesus Christus! Sehen Sie sich auf der Welt um und sagen Sie mir, ob das unwahr ist! Sehen Sie sich an, was mein Land in El Salvador, Guatemala und Gott weiß wo sonst noch tut und was wir in Vietnam gemacht haben - wollen Sie dann noch behaupten, es gäbe keine Gewalt. Wir hatten einen Präsidenten, der Gummidrops ißt und der Frauen und Kinder vor dem Frühstück tötet und dazu grinst - ich meine, er ist ein netter Kumpel. Verrückt! Beethoven

Fühlen Sie sich in Ihrer Arbeit mit jemandem besonders verwandt?

Isaak Babel ist mir ungemein wichtig. Ich habe 30 Jahre lang ein Bild von ihm mit mir herumgetragen. Babel ist so großartig, daß ich immer, wenn ich an ihn denke, in die Luft springen möchte.

Und wie ist es mit Gegenwartsliteratur, Baldwin oder Burroughs?

Das sind Zeitgenossen, die hatten auf mich als Schriftsteller keinerlei Einfluß. Den wesentlichsten bewußten Endruck hat Beethoven auf mich gemacht. Das ist meine Nummer eins.

Welche Aufgabe hat für Sie ein Schriftsteller in der Gesellschaft?

Ich bin nicht sicher, wie ich die Frage verstehen soll. Fragen Sie, ob der Autor von einem politischen Standpunkt aus schreiben soll? Gemeinhin ist das Propaganda. Schreiben aber ist eine Kunst, und wenn Sie Propaganda schreiben wollen - schön, aber behaupten Sie nicht, es sei ein Kunstwerk. Es gibt Ausnahmen: Sonnenfinsternis von Arthur Koestler ist ein großartiges Buch und politisch dazu.

Hat denn Kunst aus sich heraus überhaupt eine politische Kraft?

Doch, sicher, weil besonders die gesellschaftsverändernden Kräfte viel mit dem jungen Künstler zu tun haben, weil beide etwas benötigen, wogegen sie angehen können. Es gibt viele Arten, Muskeln zu bilden, aber alle haben etwas gemeinsam: sie brauchen Widerstand. Wo immer es politische Kraft gibt... zum Beispiel Kommunismus kann ohne Faschismus nicht existieren. Von Natur aus gibt es in Kunst und Politik befreiende Kräfte. Ringen um Macht

Die Protagonisten Ihrer Bücher leben in unausweichlichen biographischen Verläufen, befinden sich in tragischen Situationen: Sie lernen nichts aus ihren persönlichen Katastrophen.

Ich denke nicht über solche Aspekte nach. Ich versuche nur, die Forderungen der Geschichten zu erfüllen. Menschen ringen um Macht, seit sie auf ihren verhornten Füßen gehen können, sogar den Tiere ist so etwas nicht unbekannt. Und wie Sie bemerkt haben, werden die Leute in meinen Büchern immer dann zerstört, wenn sie die Kontrolle verlieren, ihre Idealkraft. Alle aufgezeichneten Geschichten bis zurück zu Gilgamensch erzählen von diesem Kampf. In der gesamten Mythologie wird immer ein Gott angerufen, um einen anderen zu zerstören. „Prügel die Scheiße aus ihm!“ Wir vertrauen auf Gott. Wir brauchen eine Quelle der Macht. Mangel an Macht ist das menschliche Dilemma. Das ist der Grund, warum meine Protagonisten immerzu nach einem solchen Gleichgewicht suchen. Es geht ihnen darum, sich immer jemand anderem überlegen zu fühlen. Es geht aber nicht: Es gibt immer einen, der seine Pistole schneller zieht. Die Personen in meinen Geschichten sind „Mikrokosmen“ dieses menschlichen Dilemmas. Sie lernen die Lektionen des Lebens nicht, sie leben einfach, ohne zu lernen. Acht Jahre haben gereicht, um unser Land für immer in Schuld zu setzen. Wir ruinieren uns, um mehr Bomben bauen zu können. Wahnsinn. Nicht meine Personen sind verrückt, sondern die Welt ist es. Macht Macht Macht.

Interessanterweise blockiert die Sexualität Ihrer Personen häufig deren Weg zur Macht.

Es ist nicht „Sexualität“, es ist ihre sexuelle Besessenheit. Aber es ist eine gute Art, es darzustellen: Wer hätte denn keine Probleme mit Sex?

Ist es das Schicksal Ihrer Personen, im Kampf gegen die Sebstauflösung zerstört zu werden - von außen...?

Nichts geschieht von außen. Alles ist ein „inside job“. Ich mache mir immer die Welt, in der ich lebe, selbst. Das ist etwas anderes als der künstlerische Schöpfungsvorgang. Man sieht ja, was die leute daraus machen. Ich töte dich nicht

Aber das ist doch nicht die Welt, die sie wollen.

Natürlich, klar, warum denn nicht, warum machen sie sie denn sonst?

Ihr Buch „Mauern“ ist eine Abrechnung mit dem Polizeistaat. In unglaublichen Allmachtsvisionen übt der Held Rache an den Polizisten, die ihn ins Gefänfnis gebracht haben, foltert sie, dreht das Rechtssystem nach seinen Vorstellungen um Gerechtigkeit weicht seiner persönlichen Genugtuung. Gibt es keinen anderen Weg heraus aus den staatlichen Repressionen?

Doch, klar: Geben wir das gesamte Konzept von Richtig und Falsch, Gut und Schlecht und aller anderen Antagonismen auf. Es ist nicht falsch für mich, dich zu töten, aber es ist bloße Illusion, mir einzubilden, es würde die Qualität meines Lebens heben, wenn ich dich töte.

Hubert Selby macht zur Zeit mit Henry Rollins eine Lesereise durch die BRD.