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Wahl in der UdSSR: Im Weg liegt das Ziel

■ Am 26. März wird in der Sowjetunion der neue "Kongreß der Volksdeputierten" gewählt

Am 26. März wird in der Sowjetunion der neue „Kongreß der

Volksdeputierten“ gewählt

„Wir brauchen keine Debatten über ein Mehrparteiensystem“, schimpfte der Moskauer Parteichef Lew Saikow am Samstag und warnte vor dem „Abenteurertum und der links-utopischen Einstellung“ einer selbsternannten Avantgarde. Der Vorwahlkampf um die Kandidatennominierung zum Kongreß der Volksdeputierten hat den Parteischranzen das Fürchten gelehrt: In einem Drittel der Wahlkreisbezirke ist es zu heftigen Angriffen gegen die Praxis der Kandidatenaufstellung und der Auswahl der Stimmberechtigten gekommen. Nur in der baltischen Republik Estland und in Weißrußland sprachen sich die Bürger ungefiltert über ihre Kandidaten ab. Noch stehen nicht alle Kandidaten fest, doch „die ersten freien Wahlen“, als die die Bevölkerung die Nominierung empfindet, haben schon jetzt das politische Leben in der Sowjetunion verändert. In einem Moskauer Wahlbezirk etwa streiten zwölf Kandidaten um einen einzigen Deputiertensitz. Nach den Wahlen wird der Kongreß der Volksdeputierten den Obersten Sowjet, das Parlament der UdSSR, wählen.

„Zuerst hatten wir Zweifel, ob es uns gelingen wird, die erforderliche Mindestanzahl von 500 Leuten für eine Delegiertenversammlung in unserem Bezirk aufzubringen. Als das erste Mal Korotitsch, der Chefredakteur des populären Reformblatts 'Ogonjok‘, als Kandidat nominiert werden sollte, kamen nur 350, bei der Wiederholung der Abstimmung, einige Tage später, waren es schon 700, und als es schließlich um Sacharows Kandidatur ging, versammelten sich in der Kälte Tausende, die in kein Gebäude mehr hineinpaßten“, erzählt ein Vertreter der „Volksfront“, die sich 1988 in Moskau nach baltischem Vorbild gegründet hat, um Gorbatschows Reformpolitik von unten zu unterstützen. Einen einzigen Kandidaten, den Historiker Stankewitsch (siehe Interview), brachte die Volksfront für Moskau durch. Einige Kandidaten, die ihr nahe stehen, sind allerdings durch Betriebe oder Institute nominiert worden.

Die Anzahl der Kandidaten pro Wahlkreis war nicht begrenzt, Bedingungen für eine Nominierung war nur, daß sich mindestens die Hälfte der Bezirksversammlung für die vorgeschlagene Person aussprach. Die Bezirksversammlungen wurden von den Wahlkommissionen einberufen und sollten mindestens 500 Stimmberechtigte umfassen. Daß Argumente und Auftritte nicht in parteiähnlichen Organisationen vorstrukturiert worden waren, verlieh den Versammlungen ein Element der Unberechenbarkeit. Wer eine Idee hatte, wollte sie jetzt und hier äußern, stürzte zum Mikrophon und verfertigte seine Gedanken beim Reden. Wer beherzt und schwungvoll sprach, bekam meist den Zufallsbeifall der Mehrheit, auch wenn der Applaus gerade eben noch einem entgegengesetzten Standpunkt gegolten hatte.

Im Moskauer Oktjabrskij-Bezirk wurde spontan ein junger Mann nominiert, der aufgestanden war, um rhetorisch ungeschickt, aber leidenschaftlich die Rechte der Behinderten zu verteidigen. „Wie kann man eine Gesellschaft anders als schlecht nennen, die diese Menschen nicht betreuen kann!“ rief er. Hier im Oktjabrskij-Bezirk wurde am 17.Februar von nachmittags 16 Uhr bis halb fünf Uhr morgens gerungen. Niemand mochte vorher gehen und die eigene, wertvolle Stimme opfern. Als ein Grüppchen von Stimmberechtigten zu spät kam, brachte man es nicht übers Herz, sie auszuschließen, und die ersten Abstimmung wurde wiederholt.

Im allgemeinen begannen die Wahlversammlungen mit einen Eklat: „Bevormundung“ und „Manipulation“ wurden den Wahlkommissionen vorgeworfen, die in früheren Zeiten - meist in derselben personellen Zusammensetzung - die Scheinwahlen „nach Drehbuch“ organisiert hatten.

Welches Volk

darf deputieren?

Das Motto der Wahlen zum „Kongreß der Volksdeputierten“ am 26.März lautet: Jedem Wähler zwei Stimmen! - wobei die eine dem Kandidaten des lokalen Wahlkreises gelten soll, die andere einem Vertreter auf Republiksebene. Dieses Gleichheitsprinzip wird aber nicht nur durch die fragwürdige Einflußnahme der Kommissionen bei der Vorauswahl der Kandidaten verwässert: Neben 750 Vertretern der Wahlkreise und ebenso vielen Repräsentanten der Sowjetnationalitäten sollen in den „Kongreß der Volksdeputierten“ weitere 750 Abgeordnete einziehen, die gar nicht von den Wählern, sondern von etablierten „gesellschaftlichen Organisationen“ wie Partei und Gewerkschaftsbund entsandt werden.

„Auch ein schlechtes Wahlgesetz muß man einhalten“, forderten unverdrossen die Aktivisten, die am 21.Februar vor dem Moskauer Gewerkschaftshaus für Boris Jelzin warben. Kunstvoll selbstbastelte Collagen, wie sie auch in der U -Bahn hingen, weichten in Regen und Schnee und zeigten den gestürzten Moskauer Parteichef im Kampf mit einer vielköpfigen Bürokratie-Hydra. Erst in den frühen Morgenstunden gelang es Jelzin, über die 50-Prozent-Hürde zu springen. Jetzt wird er für den Gesamtmoskauer Wahlkreis auf Republiksebene kandidieren. Damit pokert er hoch: Denn die Chancen, als Kandidat nur auf lokaler Ebene gewählt zu werden, wären größer gewesen. Daß sich Jelzin auf die riskante Republiksebene festgelegt hat, entspricht dem populistischen Stil eines Mannes, der nicht nur bei den Moskauern als Symbol für Konsequenz und soziale Gerechtigkeit gilt und allen, denen die Perestroika zu langsam vorangeht, als möglicher Oppositionsführer gegen Gorbatschow erscheint. Daß die Einflußmöglichkeiten eines Deputierten von alten Reform-Hasen nicht überschätzt wird, zeigt das Verhalten von Vitalij Korotitsch und von Nobelpreisträger Andrej Sacharow. Für beider Kandidatur hatte es heftige Demonstrationen gegeben, beide haben sich in letzter Minute entschieden, von ihren Nominierungen zurückzutreten. Besonders im Falle Sacharows - nach Boris Jelzin wohl der meistnominierte Kandidat - hat dies zu Befremden und Enttäuschung unter seinen Anhängern geführt (siehe Interview). Für Vitalij Korotitschs Rückzieher gibt es dagegen eher Verständnis. Eine ganze Phalanx konservativer Blätter hat sich auf Korotitsch als Buhmann der Nation eingeschossen. Dem Chefredakteur - so heißt es in informierten Kreisen - sei sein Blatt als politisches Instrument zu wertvoll, er möchte nicht in die Situation kommen, 'Ogonjok‘ zu seiner ganz persönlichen Verteidigung als Kandidat zu mißbrauchen.

Den meisten politisch interessierten Moskowitern ist gar nicht so wichtig, ob ihr Lieblingskandidat nun nominiert wurde oder nicht. „Ich habe mich über den Politisierungsprozeß gefreut“, meint auch der Bremer Soziologe Wolfgang Eichwede, der in den letzten Wochen viele Moskauer Versammlungen besuchte: „Die grundsätzliche Diskussion ist über die Intellektuellenzirkel hinausgegagen. Hier waren wirklich der Mann und die Frau von nebenan beteiligt. Bei all dem Deprimierenden, das man hier täglich hört - Kritik an der Führung, Nachrichten über unverminderte Nationalitätenkonflikte und Klagen über die wirtschaftliche Lage -: die Wahlkampagne war doch ein heiterer Farbfleck!“

Das Bild paßt zum Bonmot von der politischen Landschaft als Leopardenfell, das in den Moskauer Klubs zirkuliert: „Im Mai 88“, sagt man hier „als es zu Massendemonstrationen vor der Parteikonferenz kam, bildeten diese helle Flecken auf einem dunklen Grund. Heute gibt es zwar noch immer graue Zonen, dort wo es die Nomenklatur geschafft hat, ihr Kandidaten konkurrenzlos durchzubringen, aber sie bestimmen nicht mehr die grundfarbe des Felles. Die ist überall im Land ins Helle umgeschlagen.“

Barbara Kerneck

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