: Halbschläfer rütteln
■ Olaf Arndt und Malte Ludwig unterhielten sich mit Gerhard Rühm
Olaf Arndt/Malte Ludwig: Erzählen Sie uns doch bitte etwas über Ihr jüngstes Buch, das unlängst bei Rowohlt erschienen ist.
Gerhard Rühm: Es handelt sich um einen ganz wichtigen Bereich meiner Arbeit, der bislang nur sporadisch dokumentiert wurde, und zwar Sprechgedichte. Ich habe den visuellen Texten Sprechtexte gegenübergestellt, die gehört werden müssen, wie visuelle Texte gesehen werden müssen. Und bei diesen auditiven Texten, wie ich sie nenne, könnte man zwei mediale Formen unterscheiden: Das eine sind Tonbandtexte, die im Studio entstanden sind - zu denen rechne ich auch Hörspiele -, aber die sind in diesem Band nicht drin, weil sie zum großen Teil nicht einmal vollständig notiert sind. Das andere sind Texte, die gesprochen werden sollen. Auf die habe ich mich beschränkt. Der Band hat zwei Teile: da gibt es zunächst Texte für einen Sprecher - das ist auch der überwiegende Teil, da ich ja zumeist meine Sachen selbst vortrage - und im anderen Teil gibt es dann Texte für zwei bis vier Sprecher. Zusammen mit einer Kassette, die ich besprochen habe, erscheint der gedruckte Text in so einem Schuber, das ist eine neue Präsentationsform.
Partitur und Interpretation sind also vereint?
Sozusagen ja, wobei die Niederschrift allein schon einen eigenen Wert hat. Es ist nicht so, daß man unbedingt die Kassette benötigt, um das Buch zu verstehen. Sie ist nur hilfreich und in einigen Fällen vielleicht sogar unentbehrlich. Und es sind gerade die Texte für mehrere Sprecher auch für andere Interpreten angelegt. Sie könnten sich sogar für den schulischen Gebrauch eignen.
Das ist ja nun keine ganz neue Form, wenn man Ihre eigene Entwicklung zurückverfolgt: Es gab eine Schallplatte mit „Flüstergedichten“ als Buchbeilage...
Es handelt sich jetzt um eine Sammlung. Das Ganze heißt Botschaft an die Zukunft, nach einem Text aus dem Band. Einen griffigen Titel find ich ganz günstig, „Gesammelte Sprechtexte“ war mir zu abstrakt. Es sind also ganz frühe Sachen drin, von 1952, und es endet 1987.
Haben Sie an den älteren Texten für die Neuausgabe etwas verändert?
Nein, ich bin der Meinung, daß man da nicht herumbasteln soll. So sind sie, und so sollen sie sein. Visuelle Texte
Sie haben andererseits versucht, nicht nur in den auditiven Bereich zu gehen, sondern auch in den visuellen.
Visuell habe ich früher fast immer gearbeitet, denn die komplizierteren akustischen Dinge konnte man sehr lange Zeit überhaupt nicht realisieren, denn dazu braucht man ein Tonstudio. Das hat erst begonnen, als sich der Rundfunk, zunächst noch sehr zaghaft, diesen Dingen zu öffnen begann.
Können Sie die Entwicklung in Ihrem Umgang mit Hörtexten beschreiben?
Die frühesten Texte, die ich gelten lassen würde, sind meine Lautgedichte. Sie sind als poetisches Pendant zum Tachismus in der Malerei entworfen oder zu Leuten wie Anton Webern in der Musik. Also die absolute Verkürzung und Verknappung. Sie knüpfen weniger an die Tradition des Expressionismus und des Dada an - auch da gab es ja schon Lautgedichte. Und ich würde auch die Sonate in Urlauten von Schwitters nicht als Dada bezeichnen, sondern eher als Merzdichtung, d.h. aus der konstruktiven Phase von Schwitters. Einige meiner frühen Gedichte bestehen teilweise nur aus drei Lauten oder der Artikulation des Buchstabens „a“.
Was hat Sie damals an dieser Form gereizt?
Ich habe mich schon immer mit Musik beschäftigt, und es gab eigentlich in der Dichtung keine Entsprechung für das, was Musik und bildende Kunst schon lange produzierten. Heute ist es ja noch schlimmer geworden. Was etwas in der Literatur gilt heutzutage, ist meiner Meinung nach abgestandener Käse. Ich denke an Leute wie Günther Kunert oder - wie heißt denn der ganz besonders Schlimme noch gleich - Rainer Kunze! Ärger erregen
Wie erklären Sie sich den Rückgang des Interesses an experimentellen Formen?
Es gibt immer solche Wellenbewegungen in der Kunstgeschichte. Es gibt progressive und restaurative Phasen. Daß wir mitten in einer restaurativen Phase sind, hindert mich nicht, meine Sachen weiterzubetreiben. ich wehre mich übrigens ein wenig gegen die Bezeichnung „experimentell“, weil jede gute Literatur zu ihrer Zeit so etwas Ähnliches wie experimentell ist. Sogar Sturm und Drang hat als etwas Neues viel Ärgernis erregt, und dann hat wieder die Romantik Ärger erregt bei ehemaligen Sturm-und -Drang-Dichtern. Denken Sie an Goethe, der sich über Tieck und Grabbe mokiert. Ende des 19.Jahrhunderts gab es so eine restaurative Phase und in den dreißiger, vierziger Jahren dieses Jahrhunderts ebenfalls. Die Zeit wird immer schnellebiger, die Phasen werden kürzer, die neue Einfachheit in der Musik halte ich zum Beispiel auch für nur eine vorübergehende Erscheinung. Aber gleichzeitig gibt es Minimal music, wo völlig andere geistige Voraussetzungen vorhanden sind. Was Steve Reich macht, ist äußerst interessant und keinesfalls restaurativ. Die jungen Wilden schwimmen zum Glück schon wieder runter in der Malerei. Das war nichts als ein Aufwärmen dessen, was die Brücke gemacht hat.
Gibt es denn ein Rubrum, das Sie gern für Ihre Arbeit benutzen?darum, Freiheit zu dokumentieren. Ich bin der Meinung, daß die Kunst von Grund auf anarchistisch ist. Jede Kunst, die gesellschaftlich wirksam ist, stellt Konventionen in Frage, die zumeist formal sind. Formen zu zerbrechen und neue zu entwickeln, zielt also auch auf neue Gesellschaftsformen, geistige zumindest. Darin besteht ihre Sprengkraft, und es ist sicher kein Zufall, daß gerade die totalitären Regime harmlose Dinge wie die ungegenständliche Kunst, die inhaltlich gar nicht zu fassen ist, verboten haben, weil sie Ausdruck von Freiheit ist. Freiheit vorzuführen, ist eine wichtige Aufgabe. Normalerweise schreibe ich nicht, um Leute zu provozieren, aber Sie haben vorhin die Thusnelda Romanzen erwähnt, die bis heute einige Leute schockieren, und gerade in den fünfziger Jahren hat es viel Spaß gemacht, den Bürger zu provozieren, zu erschrecken. Epater le bourgeois
Damals sind Sie ja auch ganz schnell auf Widerstand gestoßen...
Auf gewaltigen, gewaltigen... Wir, im kleineren Kreis der Wiener Gruppe - und Wien war ja immer besonders reaktionär ja das war teilweise lebensgefährlich, da sind oft Flaschen auf die Bühne geflogen. Wir mußten die frühen Veranstaltungen oft wegen der Tumulte unterbrechen, und zwei sind sogar von der Polizei abgebrochen worden.
Hat die Kunst denn auch Freiräume geschaffen und sie nicht nur genutzt?
Auf jeden Fall. Denken Sie an Henry Miller, der heute ohne Zucken diskutiert wird.seine Filme irgendwann einmal, und sei es auch im Spätprogramm, diese möglichen Zuschauermillionen erreichen könnten.
Genau dafür wäre ich auch. Wenn sich die Programmstruktur derartig verändern könnte, wäre ich der erste, der sich ein Fernsehgerät anschafft. Es gibt in der BRD Tausende von Leuten, die sich für anspruchsvolle Beiträge interessieren. Die Frage ist nur, ob das dem Fernsehen genügt, die wollen ja immer Millionen, das ist ja das Verrückte. Selbst wenn eine Sendung nach einer Umfrage wegen zu geringer Sehbeteiligung abgesetzt wird, hat sie noch immer mehr Leute erreicht, als es mit einer normalen Buchauflage je möglich wäre. Ich glaube, daß das Fernsehen an sich ein phantastisches Medium ist. Um so ärgerlicher ist es, wenn man sich diesen Stumpfsinn anschaut, der andauernd gesendet wird. Dagegen bin ich gezielter Radiohörer. Aber auch im Radio kommt eine Nivellierung auf uns zu. Psychische Grenzen
Sie haben viel unter körperlichen Ausnahmezuständen, in psychischen Grenzbereichen gearbeitet, Rausch, Müdigkeit, Wut, Überanstrengung. Haben Sie das vorsätzlich erzeugt?
Gerade psychische Extremzustände haben mich immer gereizt, und ich habe sie an mir selber experimentell ausprobiert. Auch Grenzbereiche in der Kunst anzupeilen, in denen Gattungen ineinander übergehen, also Schrift, Zeichnung, Stimme, Musik. Also z.B. Dichtungen, die zugleich schon Zeichnungen sein könnten, wenn man von der Schrift ausgeht, wenn man nur noch den Duktus von Handschrift übernimmt und damit zur reinen Zeichnung gelangt. Damit stehe ich nicht allein, die Maulwerke von Diether Schnebel befinden sich auch in so einem Zwischenbereich.
Kalkulieren Sie aber auch ein, die Kontrolle über den Vorgang zu verlieren?
Zum einen, wenn man was Neues anfängt, weiß man nie, ob da Scheiße draus wird oder was unheimlich Spannendes, und die Kontrolle bei der künstlerischen Arbeit zu verlieren, zumindest kurzfristig, find ich sehr erstrebenswert, weil: wir haben viel zuviel Kontrolle über alles, was wir machen. Das ist natürlich gefährlich, so etwas zu sagen, wenn man z.B. an Atomkraftwerke denkt oder an die Unreflektiertheit der meisten Menschen. Es gibt so viele Menschen, die nicht wissen, was sie wollen, was ihnen gut tut. Das ist auch eine der Aufgaben der Kunst: zu sensibilisieren zur Selbstfindung. Das ist etwas, das eine Art Meditation in der Kunst leistet, das muß nicht „piano“, leise und zurückhaltend sein: Ich kann mir auch eine sehr ekstatische Meditation vorstellen. Ich glaube, daß, Gefühle zu empfinden, Intelligenz voraussetzt, nicht Verstand, aber Intelligenz, Offenheit, Wachheit, und daß geistig stumpfe Menschen auch gefühlsmäßig stumpf sein müssen. Der Mensch besitzt wesentlich mehr positive psychische Möglichkeiten, als wir bislang kennen. Die müssen wir sensibilisieren. Die Kunst ist solch ein Sensibilisierungsinstrument. Daher beschäftige ich mich stark mit Parapsychologie. Das meine ich ganz konkret, daß wir mehr Fähigkeiten besitzen, und ich bin überzeugt, daß jemand, der nur einigermaßen dazu begabt ist, mit sehr viel Training telekinetische Effekte hervorzurufen imstande ist. Nitzsch und Mühl
Ist der Schock ein solches Sensibilisierungsinstrument, ich denke da vor allem an Nitzsch und Mühl, die ja anfangs auch zum engeren Kreis der Wiener Avantgardeszene gehörten?
Zuerst muß man die Halbschläfer um uns herum rütteln, damit sie ein bißchen zu sich kommen. Die Spaziergänger mit dem Walkman, die sich dauernd berieseln, betäuben lassen, statt sich das Rauschen der Blätter im Wind anzuhören, was natürlich zu einer totalen Abflachung führt. Schockierend kann ja auch sein, in einer Gesellschaft, die ungeheuer laut ist, vollkommen leise zu sein, ganz langsam, was man schön bei meditativer Musik bemerken kann, die Leute zur Raserei bringt, wenn nur gewisse Figuren immer wieder variiert werden, so wie viele heute überhaupt keine Stille ertragen können. Die Dinge haben sich gegenüber den fünfziger Jahren völlig umgekehrt, so daß es - auch wenn es widersprüchlich klingt -, heute fortschrittlich sein könnte, konservativ zu sein: z.B. in einem ganz bestimmten Sinn - gegen technische Entwicklung zu sein. Im alten Sinn des Wortes haben die Handlungen von Leuten, die einen Atommülltransport unterbinden wollen, einen Maschinenstürmer-Beigeschmack. Der europäische Kontrastwahn
Was würde Ihnen da als Entsprechung in der Kunst einfallen?
Gegen den europäischen Kontrastwahn anzugehen - auch ich war ihm anheimgefallen mit meinen seriellen Arbeiten in der Folge der Zwölftonmusik -, der schon in der klassischen Musiktheorie verankert ist, wo eine Symphonie nur einen langsamen, aber drei schnelle Sätze haben mußte. Das mal zu vergessen, auf Kontraste zu verzichten, das hat scheinbar zwar diesen regressiven Charakter, kann aber sehr explosiv sein.
Welche Bedeutung hat dabei der Rückgriff, das Zitat?
Man kann sich immer wieder inspirieren lassen. Das betrifft auch Leute wie Picasso, der in einigen Arbeiten z.B. Zeichnungen von Cranach aufgegriffen und variiert hat. Jede Zeit hat ihre ganz bestimmten historischen Vorlieben. In der „Wiener Gruppe“ haben wir uns ungeheuer für Barockdichtung begeistert, Quirinus Kuhlmann gelesen, aber wir haben das nicht eklektizistisch nachgeahmt, sondern versucht, das in unsere Zeit zu übersetzen, mit unserem Bewußtseinsstand aufzugreifen. Im Barock gibt es sehr extreme Figuren. Wenn Sie an einen Dramatiker wie von Lohenstein denken: Das galt vor hundert Jahren noch als Tiefpunkt der deutschen Literatur an Schwulst und Monstrosität. Das waren gerade die Texte, die uns am meisten interessiert haben aufgrund der gewaltigen Farbenpracht der Sprache und der Nähe zum Surrealismus und zum Expressionismus. Man kann die Gegenwart nur verstehen, wenn man sich mit diesen Themen auseinandersetzt. Alle großen Revolutionäre waren große Kenner der Geschichte. Das gilt ebenso für die Kunst: Wer nie Arno Holz, August Stramm oder Schwitters gelesen hat, wird es mit meinen Sachen schwerer haben. Es ist deprimierend, zu sehen, daß so ein Gigant wie Holz weitgehend unbekannt ist. Wer liest heute noch den Phantastus. Aber da lesen sie zum hunderttausendsten Mal Thomas Mann und schreiben die zweihunderttausendste Dissertation über eine Romanstelle bei Herman Hesse, den ich nebenbei gar nicht so schlecht finde. Rilke oder Hoffmannsthal und die wirklich interessanten Dinge sind kaum bekannt. Wir leben literarisch in einer Wüste. Ein Komponist oder ein bildender Künstler, der solche Kunst machen würde wie Kunze und Kunert Gedichte, der macht sich lächerlich aber in der Literatur kriegt man dafür sogar noch den Büchnerpreis. Ein Glück, daß der Büchner das nicht erlebt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen