: EXPLOSION AM FLIESSBAND
■ Das Medea(west)-Theater zeigt „Mercedes“ nach Thomas Brasch
Sakko und Oi leben ohne Freizeit, sie schuften Tag und Nacht gegen die Zeitlosigkeit an. Sakko ist arbeitslos. Er hatte sich sein Geld damit verdient, für eine Firma Autos zu überführen. Besonders gern fuhr er den Kunden fabrikneue Mercedesmodelle vor die Haustür. Die Firma ging pleite, jetzt träumt Sakko vom eigenen Luxusdaimler, glotzt von einer Brücke auf die Straße und zählt die vorbeifahrenden Mercedeskarosserien. „Das iss meine Arbeit/ Zählen was keiner wissen will.“
Oi muß ihrer Mutter drei Wochen im Jahr erzählen, wie sie es den Rest des Jahres fertigbringt, in der Sauna und im Bräunungsstudio zu klauen. Sakko sucht eine neue Ordnung und will sich für zehn Jahre freiwillig zur Armee melden. Oi findet Sakkos Gedankenlosigkeit ätzend: „So blöd is nicht mal die Polizei/ Niks im Kopf und dann hält ern hin.“
Thomas Brasch entwickelt in sinem 1984 entstandenen Stück Mercedes in kurzen, dichten Szenen eine moderne Leonce und Lena-Geschichte von zwei Menschen, die sich näherzukommen versuchen und an ihrer Unfähigkeit, Nähe auch zu ertragen, scheitern. Er verwandelt das Theater in diesem Stück in ein Laboratorium, das mit Versuchsanordnungen experimentiert, durch die sichtbar werden soll, was mit Menschen passiert, die nicht einmal auf Godot warten. Es ist ein Stück für Schauspieler, die die Brüche der Figuren auf der Bühne zum Ausdruck bringen können, ihre Verzweiflung, ihren Haß, ihre Trauer, ihre Sehnsucht.
Arnim Petras-Doepner zeigt an der Vielschichtigkeit der Protagonisten kein Interesse. Unter seiner (mühsam erkennbaren) Regie werden Sakko und Oi in der neuesten Produktion des Medea(west)-Theaters als hysterische Patienten in Szene gesetzt, die ihre Geschichte nicht entwickeln können, weil sie atemlos die erarbeiteten Provokationen durchziehen müssen. Bernd Hoffmann als Sakko und Diana Neumann als Oi rennen völlig hektisch hin und her, um bedeutungsüberfrachtete Requisiten auf die Bühne zu schleppen, die, bevor ein Bild vom Bühnenspiel beim Zuschauer Platz greifen könnte, auch schon wieder davongetragen werden. Das ausufernd wechselnde Zubehör kaschiert die Ideenlosigkeit der Bearbeitung überhaupt nicht - es stellt sie bloß. Die einleuchtende Idee, das Stück in einen einzigen Raum zu verlegen, in dem Sakko und Oi mit einem Fahrstuhl die ständigen Ortswechsel der Vorlage bewältigen, wird im Spiel viel zu wenig umgesetzt.
Sakko und Oi plappern ihren Text ausdauernd und fast immer wirkungslos in die Gegend, Aggressionen werden allein über Schreie transportiert, es gibt keine Zwischentöne, Nuancen hat sich die Gruppe, wie es scheint, verboten. Die (Zünd -)Körper der beiden Hauptfiguren explodieren permanent, die überdrehten Bewegungsabläufe und die monoton laute Abwicklung des Textes verfremden die Vorlage nicht etwa, sondern entfremden die Darsteller von ihren Figuren: Die Widersprüche von Sakko und Oi werden so weginszeniert und tauchen im Spiel als nicht sonderlich fesselnde Ungereimtheiten wieder auf.
„Theater hat auch etwas mit Illusion zu tun“, sagt meine Nachbarin, die ihre eigenen spätestens in der Pause zerstört sieht, als sich die beiden Hauptdarsteller locker plaudernd in die Mitte der offenen Bühne hocken, um leicht zu brotzeiten. Zehn Minuten später stehen sie auf und sind wieder Sakko und Oi, die erholt ein paar weitere zwischenmenschliche Abgründe schauspielern. In diesem Theater ist alles nur Theatralik. Worum geht es eigentlich in den drei Stunden (nicht)? Liebesunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Psychiatrie, Konsumterror, Zeitlosigkeit, alles ist mal da. Es werden keine Akzente gesetzt, schließlich blubbert das Ganze breiig irgendeinem Ende entgegen.
1985 wurde das Medeatheater in Ost-Berlin gegründet. Zunächst über Kontakte nach Bremen schloß sich 1986 schließlich eine Gruppe zusammen, die sich Medea(west) -Theater nennt. Die Ost-Berliner Gruppe hat in vier Jahren 120 Proberäume kennengelernt und unter anderem DDR -Erstaufführungen desMedeamaterials und der Hamletmaschine von Heiner Müller besorgt. Die Repressionen der Stasi nehmen zu: Zuletzt wurde ihre neueste Filmproduktion frauen. krieg ebenfalls nach einem Stück von Thomas Brasch, beschlagnahmt, sie selbst einen halben Tang lang festgehalten. Dem Medea(west)-Theater geht es besser: Gerade diktierten sie einem Stadtmagazin selbstbewußt, sie würden an der Entwicklung einer Dramaturgie des Volkstheaters der neunziger Jahre arbeiten. Diese Arbeit, scheint es, ruht.
Michael Fechner
Mercedes vom 23. bis 27. März im Statthaus Böcklerpark
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