: „Etwas mehr Offenheit würde unserer Sache keinen Abbruch tun“
■ D O K U M E N T A T I O N
Am 1. Dezember 1934 wird in Leningrad der Erste Sekretär der dortigen kommunistischen Parteiorganisation Sergej Mironowitsch Kirow, ein aus der Revolutionszeit bekannter Funktionär, von einem ehemaligen Mitarbeiter des Parteiapparates, Leonid Nikolajew, ermordet. Dieser Mord erschüttert die Menschen im ganzen Land. Kirow ist sehr bekannt und beliebt. Die Trauerfeier und die Beisetzung in Moskau an der Kremlmauer hinter dem Mausoleum, bei der Stalin und alle anderen Führer dem Toten Ehre erweisen, findet unter großer Anteilnahme der Bevölkerung statt. Mit diesem Mord, seine Hintergründe konnten bis zum heutigen Tag nicht aufgeklärt werden, erhält das Wort Wachsamkeit einen neuen und besonderen Klang. In den folgenden Jahren setzen Verhaftungen und Verfolgungen ein, die immer größeren Umfang annehmen. Im Umfeld unserer Familien verschwinden zuerst Väter von russischen Mitschülern, die in Deutschland tätig gewesen waren, dann werden Väter unserer deutschen Klassenkameraden und einzelne Lehrer unserer Schule verhaftet. (...)
Erst nach dem Tode Stalins im März 1953 wurde bekant, auf welche Weise die Schauverfahren zustande gekommen und in welchem Umfang unschuldige Menschen, darunter viele hervorragende Kämpfer der Revolution und der kommunistischen Bewegung, Opfer der Willkür waren. Unter den Toten war auch Lothars Vater, Wilhelm Wloch.
Es ist schwer, im Rückblick nachzuvollziehen, wie wir diese Vorgänge in uns aufgenommen haben. Noch viel schwieriger, fast unmöglich ist es, diese Zeit einem jungen Menschen von heute verständlich zu machen. Es war ja nicht so, daß unser Leben nur von Angst und Schrecken geprägt gewesen wäre, daß wir das Sowjetland nun weniger als unsere sozialistische Heimat empfanden und unsere Kindheit und Jugend weniger froh erlebt hätten.
Vieles war widersprüchlich. Bei Kontakten mit den betroffenen Familien sprach niemand darüber. Die meisten glaubten an einen Irrtum, an Folgen bösartiger Denunziation. Einige der Verhafteten kamen wieder frei, auch solche, für die sich andere eingesetzt hatten. Die Freigelassenen sprachen selten über das Erlebte, auch sie nährten aber die Hoffnung, es handle sich um Mißverständnisse, die sich klären würden. (...)
Die Situation spitzt sich zu, als man Wolf Biermann nach einer Reise in die BRD und seinen dortigen Auftritten die Rückkehr in die DDR verwehrt.
Manchmal wird Biermann mit dem französischen Dichter und Rebell des 15. Jahrhunderts, Francois Villon, verglichen. Dieser Vergleich ist von weit hergeholt und geht sicher an der Sache vorbei. Wollte man Biermann Ehre antun, könnte man ihn eher mit dem Schauspieler am Moskauer Taganka-Theater und Zeitgenossen jener Jahre, Wladimir Wyssozki, vergleichen. Wyssozki vertonte, ebenso wie Biermann, seine Gedichte selbst. Seine Lieder sind sehr gefühlsbetont, es gibt auch bissig-kritische. Viele wurden offiziell verbreitet, man konnte Wyssozki bei öffentlichen Auftritten erleben, manche der böse-kritischen Verse, die sich mit der sowjetischen Wirklichkeit jener Jahre auseinandersetzen, gingen, im Samisdat-Verfahren vervielfältigt, von Hand zu Hand. Wyssozki war ungeheuer populär; nach seinem Tod im Jahre 1980 erschienen Tausende zu seiner Beerdigung.
Ein solches Ansehen und diese Wirkung hatte Biermann bei weitem nicht. Als es nach der Entscheidung über seine Ausbürgerung zu einem großen Eklat kam, fragten die meisten Leute in der DDR verwundert: Wer ist denn dieser Biermann? Man hatte mit solch anhaltenden Folgen nicht gerechnet. Hätte man die Nachwirkungen gekannt, wäre vermutlich anders entschieden worden. Wie die meisten Mitglieder in der Leitung des Schriftstellerverbandes, die kein Verständnis für die Ausbürgerung aufbrachten, sah auch Koni die negative Wirkung voraus. Auch er hatte sich, wie andere leitende Funktionäre, um den aus Hamburg zugewanderten Anarchisten aus kommunistisch-antifaschistischem Elternhaus bemüht. Vergeblich. Die Sache wurde noch dramatischer, als einige Schriftsteller und Künstler ein Protestschreiben an westliche Medien übergaben, bevor es die DDR-Führung zur Kenntnis bekam. Diesen Schritt, als er bekannt wurde, verurteilten die meisten Schriftsteller genauso entschieden, wie sie vorher bei ihren Beratungen im Verband die Ausbürgerung abgelehnt hatten.
Als gleich am ersten Tag, nachdem der Künstler-Protest gegen die Biermann-Entscheidung im Westen veröffentlicht worden war, unter den zahlreichen Stellungnahmen bekannter Persönlichkeiten in unserer Presse, die sich ihrerseits mit unserem Staat solidarisierten und entschieden gegen die westliche Kampagne wendeten, Konis Erklärung fehlt - sie war schon geschrieben -, glauben ihm einige der älteren Genossen fehlende Parteilichkeit vorwerfen zu müssen. Er veröffentlicht am Folgetag seine Stellungnahme, der sich manche der bis dahin Schwankenden anschließen. Sie erschien einigen dieser Genossen, auch früheren Kampfgefährten des Vaters, nicht konsequent genug. Konis beharrliche Suche nach den Ursachen des Abtreibens von Angehörigen der künstlerischen Intelligenz, sein Bemühen um jeden einzelnen, auch um jeden Schwankenden, wird als liberales Versöhnlertum gesehen. Dieser Vorwurf trifft ihn zwar hart, doch er schöpft aus dieser tiefen Überzeugung für unsere Sache gerade jene Courage, über die auch der Vater in dem Brief an die Front 1944 geschrieben hatte. (...)
Die Geschichte der Sunny hätte auch von Maxie Wander protokolliert werden können. Dieser Autorin fühlt sich Koni besonders verbunden. Bei einem unserer Gespräche über seinen persönlichen Kummer, auch über unsere Sorgen zur gefährlichen Stagnation in der Entwicklung unserer zweiten Heimat, über die Sowjetmenschen, die auf so vieles verzichten müssen, was zum Leben gehört, und doch so Großes leisten, über die mangelnde Offenheit im Umgang mit diesen wunderbaren Menschen, macht mich Koni auf ein neu erschienenes Buch von Maxie Wander aufmerksam.
Nach der Lektüre notiere ich für mich: „Etwas mehr Mut zur Offenheit würde unserer guten Sache sicher keinen Abbruch tun. Dabei bin ich bei der Maxie Wander, deren Briefe und Tagebuchblätter, nach ihrem frühen Krebstod erst jetzt von Fred Wander veröffentlicht, mich bald noch mehr beeindrucken als ihrGuten Morgen, Du Schöne. Sie ist sehr für das Offene, Ehrliche... Und da kommt manche bittere Kritik - und doch ist sie so sehr mit 'der Sache‘, unserer Sache verbunden. Es gibt eine Seelenwanderschaft ähnlicher Geschöpfe, die sich in bestimmter Sensibilität, ähnlichem künstlerischem Geschmack, Toleranz gegenüber anderen, Bereitschaft zur kritischen Selbstanalyse, Ablehnung äußeren Pomps und manchem anderen äußert. Schön, daß es solche Zeitgenossen gab und gibt.“
Koni war sicher manches vom Lebensgefühl der Maxie Wander näher als mir. Ich weiß nicht mehr, ob wir damals über meine Eindrücke sprachen. Wir hatten ja meist kaum Zeit. (...)
Dokumentation aus: Markus Wolf Die Troika, Aufbau-Verlag, Berlin, Wismar 1989.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen