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Ungewißheit und Angst - Alltag in Kabul

Überleben von einem Tag auf den anderen / Brot und Benzin sind knapp geworden / Kinder schlüpfen durch die Frontlinien / Die Stadt richtet sich auf eine lange Belagerung durch die Mudschaheddin ein / Präsident Nadschibullah propagiert einen Waffenstillstand und allgemeine Wahlen unter internationaler Kontrolle  ■  Aus Kabul Ali Sadrzadeh

Er ist erst zehn Jahre alt, aber gemessen an dem, was er in diesen Tagen verdient, ist er schon ein Erwachsener. Solange Hassan zur Schule ging, mußte er zu bestimmten Zeiten aus dem Haus, aber jetzt geht er mal vormittags, mal nachmittags seiner Tätigkeit nach, je nachdem, wann er gemeinsam mit etwa sieben Gleichaltrigen abgeholt wird. Wenn der kleine Toyota-Laster vor seinem Haus hält, nimmt er neben seinem Tagesproviant auch den leeren Fünf-Liter-Kanister und begibt sich zu seinen „Arbeitskollegen“, ebenfalls Kinder mit leeren Kanistern. Der Kleinlaster fährt die verschneite Straße nach Norden, Richtung Pandjschir Tal, wo der „Löwe des Tals“, der legendäre Rebellenkommandant Ahmad Schah Masud, alles kontrolliert. Doch nach etwa 30 Kilometern werden die Kinder abgesetzt. Zu Fuß müssen sie erst zum Dorf Karabagh, etwa 35 Kilometer von Kabul entfernt. Hierher kann sich kein Erwachsener begeben, und hier wird jedes Auto aus Kabul konfisziert. Aber in Karabagh kann man das erwerben, was dieser Tage sehr rar ist: Benzin, je fünf Liter für 1.000 Afghanis. In der Stadt läßt sich ein Liter Benzin für 300 Afghanis an den Mann bringen. Immerhin hat Hassan mit seiner eintägigen Reise nach Karabagh etwa 1.200 Afghanis verdient, fast die Hälfte des monatlichen Lehrergehalts seines Vaters.

„Wer sind die Leute, die in Karabagh Benzin verkaufen?“ frage ich Hassans Vater. „Ich weiß nicht, vielleicht die Leute von Ahmad Schah Masud, der den Salang-Paß kontrolliert und die Lebensmittelkonvois beschlagnahmt. Vielleicht sind es auch die Regierungsleute, die das staatliche Benzin beiseite geschafft haben und nun verkaufen, oder es kann sein, daß sie einfache Wegelagerer sind. Weißt du, unser Unglück besteht darin, daß man nach neun Jahren Blutvergießen nicht mehr unterscheiden kann, wer wer ist.“ Die Benzinknappheit in Kabul hat dazu geführt, daß außer wenigen Taxis und Regierungsautos kein anderer Wagen auf den Straßen zu sehen ist.

Hassans drei Jahre älterer Bruder geht dieser Tage auch nicht zur Schule, ihm ist eine noch schwierigere Aufgabe übertragen worden, nämlich das Brotkaufen. Mindestens drei Stunden lang, bei Temperaturen weit unter Null, muß er sich vor der Bäckerei mit den Erwachsenen und anderen Kindern herumprügeln, bis er sechs Fladenbrote bekommt, und das ist die höchste Menge an Brot, die ein Kunde vom Bäcker erhält. Vor den Bäckereien kann von einer Schlange keine Rede sein. Nur derjenige, der am lautesten schreien und sich mit aller Kraft durchsetzen kann, hat die Chance, schneller an das Brot heranzukommen. Zwar taucht ab und zu mal ein Soldat auf und gibt einen Warnschuß ab, um in die Menge Ordnung hineinzubringen, doch die schwachen Kunden haben trotzdem das Nachsehen. Und das sind oft die verschleierten Frauen, die man am Rande der Menschenansammlungen im Schneematsch beobachten kann.

Im Februar 1989, dem schicksalhaften Monat für Afghanistan, lag in Kabul zeitweise bis zu 50 Zentimeter Schnee, und aus den Bergen rund um die Stadt wehte ein eisiger Wind. Tagsüber macht die Stadt einen normalen, ja gelassenen Eindruck. Während an jedem sensiblen Punkt der Stadt wie an den ausländischen Botschaften und wichtigen Straßenkreuzungen Panzer in Stellung gegangen sind, belehren die Parteilautsprecher ununterbrochen die Bevölkerung, warum der Ausnahmezustand „für die Rettung des Vaterlandes“ notwendig ist.

Ausgangssperre nach 22 Uhr

Oft verbreitet gleichzeitig ein anderer Lautsprecher von der naheliegenden Moschee aus die Predigt eines Mullahs. Doch das geschäftliche Treiben des orientalischen Bazars ist laut genug um die beiden Lautsprecher als etwas Nebensächliches erscheinen zu lassen. Der Kabuler Bazar ist trotz Einheitspartei und Planwirtschaft immer noch das pulsierende Herz der afghanischen Wirtschaft oder dessen, was von ihr noch übriggeblieben ist. Dieses Herz hört aber gegen sechs Uhr abends auf zu schlagen, jeder versucht rechtzeitig vor Beginn des Ausnahmezustands um 22 Uhr zu Hause zu sein. Sehr früh muß man seinen Stand aufräumen oder das Geschäft schließen, denn der normalsterbliche Afghane kann sich dieser Tage kaum eine Taxifahrt leisten, und ein funktionierendes öffentliches Verkehrsmittel zu erwarten, wäre angesichts der Benzinknappheit und sonstigem Chaos anmaßend.

Hassans Vater, der als Lehrer seine 3.000 Afghanis im Monat weiterbezieht, hat inzwischen eine Nebenbeschäftigung gefunden. Gemeinsam mit dem ältesten Sohn stellt er sich täglich an eine Ecke des Bazars und hält nach Kunden Ausschau, die ausländische Devisen umtauschen wollen. Ein Sikh, der nach außen hin Stoffe verkauft, dessen eigentliche Beschäftigung aber der Devisenhandel ist, zahlt für jeden herangeschafften Kunden zehn Prozent. Es war genau der 15. Februar als ich mit Hassans Vater Bekanntschaft machte. Ich brauchte einige Afghanis zum Schwarzmarktpreis, und er war hinter seiner zehnprozentigen Kommission her. An diesem Tag konnte man auf dem Schwarzmarkt für einen US-Dollar lediglich 210 Afghanis bekommen, zwar immerhin beinahe das Fünffache des offiziellen Kurses, aber nicht so viel wie an den vorangegangenen Tagen. Der historische Tag, an dem eine Supermacht gezwungen wurde, ihre Truppen aus einem Land der Dritten Welt abzuziehen, an diesem Tag fielen im Bazar zwar die Werte der ausländischen Währungen, doch der schlaue „Stoffhändler“ gab mir einige Afghanis mehr, „zur Feier des Tages“, wie er sagte. Aber mit der „Kommission“ waren wir wieder bei dem von ihm gewünschten Kurs.

Raketenangriff auf

spielende Kinder

Hassans Vater kann mit seinen Kindern die schwierige Kriegszeit gut überbrücken. „Zwar essen wir nur einmal in der Woche Fleisch, weil ein Kilo 800 Afghanis kostet, aber das ist nicht mein Hauptproblem. Ich habe andere Sorgen“, sagt er mit besorgter Stimme. Denn er befürchtet, daß er dieser Tage, wie alle anderen Staatsbediensteten zum Militäreinsatz herangezogen wird. Offiziell heißt es „freiwillige Meldung zur Verteidigung des Vaterlandes“, doch entkommen kann kein Beamter, wenn die Parteileute zum Rekrutieren kommen. Das bedeutet für Hassans Vater: Militäruniform, Tag und Nacht Wacheschieben bei irgendeiner Einheit und gelegentlich auch harten Kampfeinsatz. Die Kriegsinvaliden, die man oft sehen kann, machen deutlich, daß seine Sorgen nicht unbegründet sind. Denn täglich meldet Radio Kabul heftige Gefechte in allen Provinzen des Landes. „Aber der Krieg kann mich und meine Familie auch hier treffen, wie gestern im Stadtteil Schahre Now“, sagt er fatalistisch.

Was in Schahre Now geschah, war kein Krieg, sondern Terror. Zwei Raketen gehen gegen drei Uhr nachmittags dort nieder und treffen drei Kinder, die auf der Gasse spielen. Als die Journalisten dort eintreffen, ist eine Mutter dabei, die zerfetzte Leiche ihres Sohnes in den Sack zu legen, und alle Einwohner des Stadtteils stehen da und diskutieren: „Ich bin weder für die Regierung noch für die, die in Bergen kämpfen“, sagt weinend und fluchend der Vater eines verstümmelten Kindes. „Warum tun sie uns das an“, sagt eine Mutter und flucht auf die pakistanische Regierung, die den Rebellen hilft. Unterdessen diskutieren die Nachbarn darüber, ob die getöteten Kinder Märtyrer sind oder nicht. Als Märtyrer bezeichnet das Kabuler Regime jedes Raketenopfer der Mudschaheddin. Die Diskussion nimmt ihr Ende, als ein Offizier sich nähert. Also die Kinder sind „Märtyrer“ und brauchen daher nicht das üblich Kafan, das weiße Tuch, und können wie jeder Märtyrer mit ihrer normalen Kleidung und ohne rituelle Waschung begraben werden.

Was die Rebellen mit diesen blinden Raketenangriffen erreichen wollen, läßt sich politisch kaum nachvollziehen. Mit jeder Rakete verlieren sie ein Stück der heimischen Sympathie, die sie noch bei der Bevölkerung genießen. Deshalb gibt es innerhalb der Mudschaheddin eine Diskussion, ob man Kabul unter massiven Raketenbeschuß nehmen soll oder nicht. Zum Beispiel Al Hagh, der Mudschaheddin-Kommandant, der die südliche Straße von und nach Kabul kontrolliert, ist strikt gegen Raketeneinsätze, weil sie „unislamisch“ seien. Doch an der Blockade der Stadt Kabul halten alle Kommandanten verschiedener Couleur fest, weil diese Belagerung in der Tat das Regime von Nadschibullah in Bedrängnis gebracht hat. Deshalb wird das Eintreffen eines Nahrungsmittelkonvois wie eine Siegesmeldung allabendlich im Fernsehen gezeigt, aber an der Realität auf der Straße ändert sich kaum etwas. Die Menschenansammlungen vor den Bäckereien werden täglich größer, und die Preise für die Waren steigen ständig.

Die Bewältigung der täglichen Probleme in einer eingeschlossenen Stadt lassen die Menschen nicht über den Tag hinausblicken. „Was wird aus Afganistan nach dem Abzug der Sowjets?“ Auf diese Frage geben alle Afghanen die gleiche Antwort, und zwar gleichgültig, in welchem Lager sie innerlich stehen: „Nur Gott weiß es.“ Doch diese Ungewißheit ist oft gepaart mit Angst. Fast alle Afghanen strahlen eine gewisse Traurigkeit und Melancholie aus, unabhängig davon, ob sie Zuschauer der Ereignisse, Regimeanhänger oder Sympatisanten der Mudschaheddin sind.

Zittern vor der Rache

der Mudschaheddin

Der Unbeteiligte, dem es egal ist, wer die Regierungsgewalt innehat, wie Hassans Vater, befürchtet noch mehr Chaos und einen Bürgerkrieg, in dem jeder gegen jeden kämpft. Auch die Regierungsfunktionäre äußern unter vier Augen ihre Befürchtung: die rächende Hand der Rebellen werde sie eines Tages treffen. Denn von Golbuddin Hekmatyar, dem Fundamentalisten-Chef der Mudschaheddin, ist bekannt, daß er eine Liste von 50.000 Mann zusammengestellt hat, die bei der Einnahme Kabuls einen Kopf kürzer gemacht werden sollen. Jeder, der in der Spezialgarde dient, bekommt etwa 18.000 Afghanis im Monat, das ist das sechsfache Gehalt eines Lehrers, und hinzu kommen Vergünstigungen aller Art.

Doch auf Seiten der Mudschaheddin ist keineswegs einhellige Zuversicht zu beobachten. „Unsere Führer sind auch zerstritten“, gibt jeder Mudschaheddin-Anhänger umunwunden zu, und dann ist die Ungewißheit auch bei ihm zu spüren. Was passiert, wenn es in den nächsten Monaten den Mudschaheddin nicht gelingt, die Provinzstädte einzunehmen? Eine berechtigte Frage, die man jedem Oppositionsanhänger stellen kann. Den seit dem August des vorigen Jahres waren die sowjetischen Soldaten aus 25 Provinzen Afghanistans abgezogen, und den Rebellen gelang es nicht, eine einzige Stadt einzunehmen. Was passiert, wenn sich die Einnahme Kabuls über Monate, wenn nicht sogar Jahre, hinzieht? Auch eine berechtigte Frage, weil das Regime um diese Stadt drei Verteidigungsringe aufgebaut hat, die nur mit einer klassischen Armee überwunden werden kann.

Von Gruppen, die in einer kahlen Berglandschaft gegen eine mit modernen Waffen ausgerüsteten Armee einen Guerillakrieg führen wollen, kann ein militärischer Sieg nicht so schnell erwartet werden. Und je länger sich das Nadschibullah-Regime an der Macht halten kann, um so größer werden die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Mudschaheddin, die nach wochenlangem Streit nun eine Übergangsregierung gebildet haben, die auf sehr schwachen Füßen steht. Bekanntlich sind alle acht schiitischen Gruppen, die von Iran unterstützt werden, gegen diese Interimsregierung, weil ihre Herren in Teheran es sich derzeit mit Moskau keineswegs verderben wollen. Denn die Islamische Republik braucht Moskau, um den Irak bei den Friedensverhandlungen kompromißbereit zu machen. Nicht nur die Schiiten, die von sich behaupten, ein Viertel der afghanischen Bevölkerung zu stellen, nicht nur sie, sondern auch die einzelnen Kommandanten, die in verschiedenen Regionen des Landes den eigentlichen „Heiligen Krieg“ führen, sind gegen die Interimsregierung.

Propaganda gegen Pakistan

„Die ganze Shora steht doch unter direkter Aufsicht des pakistanischen Geheimdienstes“, sagt der afghanische Präsident Nadschibullah vorwurfsvoll. Mit der Shora meint er jenen 400köpfigen Konsultativrat, der mit Mühe die Übergangsregierung ins Leben rief. In der Tat wollen die pakistanischen Militärs jetzt die Früchte ihrer neunjährigen Unterstützung für die afghanischen Rebellen ernten. Der pakistanische Präsident Gholam Eshag Kahn hatte Anfang Februar von einer „Konföderation zwischen dem Afghanistan der Rebellen und Pakistan gesprochen, und diese Äußerung ist für das Kabuler Regime ein willkommener Anlaß, die Afghanen vor einer drohenden Spaltung des Landes zu warnen. „Die stolzen und nationalbewußten Afghanen sollen wissen, daß Pakistan unser Land annektieren will“, lautet die Parole, die Radio Kabul rund um die Uhr sendet. Eine Sackgasse, aus der Afghanistan derzeit kaum herauskommt: Aussicht auf einen Bürgerkrieg, die eingeschlossene Hauptstadt und die stark zerstrittenen Oppositionsgruppen. Von einer Rückkehr der fünf Millionen Afghanen aus Pakistan und Iran kann daher nicht gesprochen werden, obwohl das Nadschibullah-Regime extra ein „Repatriierungsministerium“ ins Leben gerufen hat.

Denn es gibt immer noch Krieg im Lande und kein Programm zur vorübergehenden und langfristigen Hilfe für die Rückkehrer. Und das ist noch das Problem der etwa 30 Millionen Minen, die von allen Beteiligten im ganzen Land gelegt worden sind und wie eine Zeitbombe jede Arbeit auf den Feldern zu einer Todesmission machen. „Wie kann aber die verfahrene Situation überwunden werden?“ frage ich Nadschibullah. „Ich habe einen Vorschlag. Jede Oppositionsgruppe behält ihr Gebiet, das sie derzeit kontrolliert. Ich teile mit ihnen sogar die Nahrungsmittel und Medikamente, und ihre Waffen brauchen sie nicht abzugeben. Dann soll ein internationales Gremium alle Waffen im Land sammeln, auch unsere. Anschließend soll mit internationalen Garantien die Loya Jargeh einberufen werden, und dann soll es eine allgemeine Wahl geben, und der Verlierer muß sich der Entscheidung beugen.“

Traditionalle Mechanismen zerstört

Loya Jargeh ist jene Versammlung der Stammesältesten, die als eine historische Institution Afghanistan oft aus der Sackgasse gerettet hat. Doch die Katastrophe dieses Landes ist, daß alle traditionellen Mechanismen zerstört worden sind, die für das Zusammenleben dieses Vielvölkerstaates notwendig waren. Ein alter König Zaher Schah mag zwar in seinem römischen Exil die heimliche Sympathie von vielen Afghanen spüren, aber nach so viel Blutvergießen kann im heutigen Afghanistan nur derjenige bestimmen, der am meisten Waffen hat. Ob Nadschibullah mit seinem Vorschlag seine Ernsthaftigkeit beweisen oder seine Schwäche überdecken will, sei dahingestellt.

Eine Geste der Versöhnung ist jedoch auf Seiten der Rebellen kaum zu vernehmen. Einen baldigen Fall der Stadt Kabul, wie ihn einige vorschnell voraussagten, braucht er zwar nicht zu befürchten. Doch ruhig wird er kaum schlafen können, dafür haben schon die Amerikaner gesorgt. Das Washingtoner Außenministerium hat bereits angekündigt, trotz Abzugs der Sowjets weiterhin an die Mudschaheddin Waffen zu liefern. Außerdem gibt es da noch Pakistan, Saudi-Arabien und das Teheraner Mullah-Regime, die alle im afghanischen Topf ihre Suppe kochen wollen.

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