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„Hier in Litauen verläuft die Wahl anders“

In Litauens Hauptstadt Wilna bewerben sich sieben Kandidaten um ein Mandat zum Volksdeputiertenkongreß der UdSSR / Harte Bandagen auf der Abschlußversammlung / Das „nationale Erwachen“ der Litauer weckt nicht nur Zustimmung  ■  Aus Wilna Erich Rathfelder

Als die sieben Kandidaten aus Litauens Hauptstadt Wilna den Saal des Kulturhauses betreten, warten 400 Zuhörer schon gespannt - es ist der letzte gemeinsame Auftritt vor den Wahlen zum Volksdeputiertenkongreß der UdSSR am Sonntag, dem 26.März 1989. Es wird mit harten Bandagen gekämpft.

„Hier in Litauen verläuft die Wahl etwas anders als in Moskau“, hatte mir der Wahlkampfleiter des Bezirks, Antanas Sulpa, schon vorher verraten. In Moskau müssen alle Kandidaten noch durch die Kreiswahlkommission bestätigt werden - ein Sieb, in dem mancher Reformer hängenblieb.

Daß es in Wilna gleich sieben Kandidaten sind, ist außergewöhnlich. Häufig wird in anderen Wahlkreisen nur ein Kandidat präsentiert, der zuvor - wie früher - von der Partei bestimmt wurde. Doch in Litauen schlagen schon seit Monaten die politischen Wellen hoch. Seit am 3.Juni 1988 die Organisation „Sajudis - Bewegung für die Perestroika“ offen auftritt, ist es mit der Beschaulichkeit vorbei. „Sajudis“ (Mensch) brachte in wenigen Wochen Hunderttausende in dem 3,8-Millionen-Land auf die Beine. Am 9.Juli protestierten 100.000 gegen die Desinformation der kommunistischen Presse. Als Konsequenz wurden in Litauen über 150 Zeitungen und Zeitschriften gegründet. Am 20.Juli organisierte „Sajudis“ einen Marsch gegen Umweltverschmutzung und das AKW Ignalina. Ihren Höhepunkt erreichte die Kampagne am 23.August, als Hunderttausende gegen den Stalin-Hitler-Pakt von 1939 demonstrierten, durch den Litauen seine Unabhängigkeit verloren hatte. „Sajudis“ steht heute für Offenheit im politischen Leben, für die Autonomie Litauens, für Umweltschutz und Demokratisierung der Gesellschaft. Erst am Mittwoch wurde „Sajudis“ als Organisation legalisiert.

Als mit Algirdas Brazauskas im November ein Reformer die Parteiführung übernahm, hatten die Forderungen Erfolg: Die Arbeiten am AKW Ignalina wurden eingestellt. Litauisch wurde Anfang Januar Amtssprache, die gelb-grün-rote Nationalflagge weht wieder von den öffentlichen Gebäuden. Nur in einem Punkt gab die Partei nicht nach: Als der Oberste Sowjet der Republik über die neue Verfassung der Sowjetunion diskutierte, mogelte er sich an einer Konfrontation mit Moskau vorbei. In der alten Verfassung ist nämlich formal das Recht der Republiken enthalten, aus der UdSSR auszutreten. Dieses Recht wird durch die Verfassungsreform beschnitten.

„Wir entstanden aus kleinen Rinnsalen der Ökologiebewegung und wurden zu einem großen Strom“, erläutert Virgilijus Juozas Cepaitis die Entwicklung von „Sajudis“. Doch er, Kandidat seiner Organisation in Wilna, hat es hier schwer. Denn nicht alle Litauer sind begeistert vom „nationalen Aufbruch“. Vor allem nicht die Besucher dieser Versammlung: ArbeiterInnen aus den umweltverschmutzenden Betrieben und Zuwanderer, die bei vielen Litauern nicht gern gelitten sind. Neben etwa 300.000 Staatsbürgern polnischer Herkunft und etwa 12.000 Mitgliedern der jüdischen Gemeinde fühlen sich die Hunderttausende russischen und weißrussischen Zuwanderer durch das nationale Erwachen der Litauer an die Wand gespielt. Gibt es im ganzen Land 80 Prozent Litauer, so gehören in Wilna nur 50 Prozent zur Mehrheitsbevölkerung, die andere Hälfte setzt sich aus den Minderheiten zusammen. Entsprechend die Kandidaten: drei Russen, drei Polen und drei Litauer.

Als Cepaitis ans Rednerpult tritt, kommt es zum Eklat. Schon seine Frage, wer im Saale Litauisch spricht, bringt ihn um die Sympathien der Zuhörer. Er wird von Arbeitern polnischer Herkunft scharf angegriffen. Als er von einer Kampagne gegen sich spricht, weil die heraufgereichten Fragezettel mit Schreibmaschine geschrieben sind, also vorgefertigt scheinen, brodelt es im Saal. Hier ist für ihn nichts mehr zu holen. Er bricht seinen Auftritt ab.

Auch die Gegenkampagne rollt. In Reaktion auf „Sajudis“ ist die Organisation „Einheit“ Ende letzten Jahres gegründet worden. Hier sammeln sich Polen, Russen, Weißrussen und auch Konservative aus der Partei. Erst am 12.Februar mobilisierte „Einheit“ ihre Anhänger und warf „Sajudis“ Faschismus vor. Zwar bestreiten die Anhänger von „Einheit“ die ökologische Katastrophe nicht, doch wollen sie der litauischen Renaissance nicht länger tatenlos zusehen. Denn seitdem auch in Betrieben, Schulen und Universitäten Litauisch gesprochen werden soll, fühlen sich viele ihrer beruflichen Chancen beraubt.

So hat es der Kolchosevorsitzende Henrikus Jankowskis leichter, sich im Saal durchzusetzen. Er will nur die Autonomie der Betriebe verstärken, die Prinzipien der „Rechnungsführung“ durchsetzen - von der nationalen Wiedererweckung hält er offensichtlich nichts.

Der dritte aussichtsreiche Kandidat ist Professor Jurus Pozela; er ist Präsident der Akademie der Wissenschaften in der Stadt. Die Kommission der Akademie sei es auch gewesen, die als erste die Verfassungsfragen diskutierte und eine eigene, litauische Verfassung in Angriff nahm. In der neuen Verfassung müsse garantiert sein, daß sich das Verhältnis der Republik zum Gesamtstaat, also auch die Wirtschaftsbeziehungen, auf gleichberechtigter Grundlage vollziehen, führt er sein Wirtschaftsprogramm aus. Heute träfe immer noch Moskau 95 Prozent der Wirtschaftsentscheidungen der Republik. Im nächsten Jahr sollen jedoch bereits 50 Prozent der Industrie von den litauischen Behörden kontrolliert werden. Doch alles müsse ganz legal und im Rahmen der Verfassung der Sowjetunion vor sich gehen. Seine Argumentation kommt an.

Das Rennen ist spannend geblieben. Keiner wagt eine Prognose. „Doch auf Landesebene wird Sajudis 36 bis 38 der 43 Sitze gewinnen“, schätzt der Redakteur Rimvyias Valatka. Über 80 Prozent der Delegierten würden Parteimitglieder sein: eine Niederlage des Apparates also, nicht der Partei. Denn viele der Kandidaten von „Sajudis“ gehörten dem Reformflügel der Kommunisten an. Und der hat seit November, als Algirdas Brazauskas den Parteivorsitz übernahm, das Sagen. Widerstände gebe es aber allerorten. Erst vor einem Monat, auf dem 17.Plenum des ZK der Partei Litauens, setzten sich die konservativen Kräfte zunächst durch. „Damals wurde die Presse nicht mehr zugelassen, drei Chefredakteure wurden gemaßregelt, die neuen Zeitungsgründungen sollten verboten werden. Die Perestroika stand auf der Kippe.“

Doch die Öffentlichkeit ließ sich nicht einschüchtern. Basisversammlungen der Partei erzwangen eine Revision. Zeitungen kritisierten die Beschlüsse. Und manche setzen jetzt alles auf eine Karte: Im Mai wollen sich die Grünen als Partei konstituieren. Die Perestroika soll in Litauen unumkehrbar gemacht werden.

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