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DER VERLUST DER MITTE

■ Funktionelle Herztätigkeit mit und ohne Heiligenbildchen

Ostern ist das Fest der Fruchtbarkeit. Deshalb verehren wir auch den Hasen (werffreudiges Haustier) bzw. das Ei (Gebrauchsprodukt verbraucherfreundlicher Legetätigkeit). Im Gegensatz zu Hase und Huhn käme es beim Menschen aber überhaupt nicht zur Paarung, hätte er nicht ein Herz. Das Herz motorisiert die Geschlechtsorgane, vorher müssen sie aber mobilisiert und konditioniert werden. Zu diesem Zweck ist die Liebe erfunden worden. Die Liebe nimmt unverzüglich vom Herzen Besitz.

Im 19.Jahrhundert trug man das Herz offen, mitten auf der Brust. Ein gesundes Herz war prall, dunkelrot und brannte lichterloh. Beliebt war auch das Herz, aufgespießt auf einem Liebespfeil. Man hängte sich sowas bevorzugt ins Schlafzimmer, links das Herz Jesu, rechts das Herz Marias, beide ungefähr gleich alt, wie es sich für die ordentliche Aufzucht eines Stammbaumes gehört. Zwei Herzen als symbolische Überhöhung der Ehekissen, vom Zeugungsort bis zum Herzen eineinhalb Meter Luftlinie. Während Maria schamvoll den Kopf neigt, mahnt Jesus mit erhobenem Zeigefinger, um an die wahre, reine und seelenfeine Liebe zu erinnern, an die große Liebe zum Heiland, die in den zwei kleinen Herzkammern Platz finden muß, zusammen mit ein paar kleinen irdischen Lieben. Dieser blutige pulsierende Klumpen Herz muß von innen blinken, auch wenn er noch so erotisch glänzt. Und der kleine Jesus darf nur deshalb so ungeniert mit dem Liebesapfel spielen, weil die Maler eigentlich viel lieber Venus und Cupido dargestellt hätten, aber keine Abnehmer dafür fanden. Ein anständiger Haushalt wußte, was sich gehört. Ebenfalls billig als Öldruck zu erwerben waren noch Christus im Ährenfeld und Christus am Ölberg. Kreuzigungen fand man fürs Schlafzimmer unpassend.

Heutzutage wirkt es verdächtig, sein Herz offen zu tragen. Schlagertexte, Werbesprüche und Geschenkartikel zum Thema „Herz“ werden müde belächelt. Wer faßt sich schon noch ein Herz, nimmt sich zu Herzen, stirbt wie einst Goethes Werther an gebrochenem Herzen (kann es sein, daß du schlecht beobachtest? sezza). Lyrik geht schlecht im Zeitalter von „Liebe ist..., wenn sie ihm das Frühstück ans Bett bringt“. Der Papst fordert: Ein Herz für Kinder, was man wenigstens auf Autoscheiben befolgt. Das Herz wird aufgesplittet in Arbeits- und Privatleben, Bekannte, Freunde, Geliebte und One-Night-Sessions. „Jede Seite was für mich!“ Der Überschuß versackt zwischen Koch-'Brigitte‘ und Peepshow... Das rationalisierte Herz sichert das Überleben von Schwarzwaldklinik und Luc Bondy, Doris Dörrie und dem Kleinen Fernsehspiel.

Das Herz tobt sich derweil woanders aus. Seit dem vertrauten Herzschlag im Mutterleib ist es süchtig auf Rhythmus, der ihm gleicht. Der Doppelrhythmus Bum-Bum prädestiniert die Vorliebe für den Zweitakter. Muttersöhnchen lieben Marschmusik. Kompliziertere Herzen schlagen im Dreivierteltakt (was meinst du, wie kompliziert muttersöhnchen sein können. sezza). Die Wiener Symphoniker wurden von Musikwissenschaftlern an ein Elektrokardiogramm angeschlossen zwecks Messung der elektrischen Ströme ihres Herzmuskels. Das Diagramm brachte man mit der emotionalen Reaktion auf die Musik zusammen. Es sollen auch schon mehrere Dirigenten bei einer bestimmten, besonders innigen Stelle in Wagners „Tristan“ einen Herzschlag erlitten haben.

Dirigentenprofis können solche emotionalen Rauschzustände auch bewußt herstellen. Wo sie sich selbst nicht überzeugen, hilft Yoga, den Herzrhythmus zu senken.

Industriezweige leben von solchen Erkenntnissen. In Discos und Live-Konzerten gehen die Frequenzen bewußt unter 20 Hz, um das Vegetationszentrum zu erreichen. Weitere vegetative Veränderungen beginnen ab 65 Phon Lautstärke. Bei 90 Phon halbiert sich der Herzschlag, die Blutgefäße ziehen sich zusammen, ein Rauschgefühl stellt sich ein. Der tägliche kleine Rausch aus der Massensongproduktion arbeitet mit dem synchronisiertem Herzschlag aus der Rhythmuskiste. Da kann sich kein Herz wehren. Noch weniger bei der Funktionellen Musik von Muzak. Frequenzen, Tonhöhen, Lautstärken werden zu einem Brei zusammengeschmolzen, zu einem undifferenzierten Hörerlebnis, um einen (Kauf-)Rausch zu suggerieren. Hinterrücks schleimen sich die leisen Rhythmen süßlich ein, in die letzte Bastion, das Herz.

Mit letzter Kraft schleppt sich das Herz zur Heilpraktikerin, um zu sich selbst zu kommen. Böse Überraschung: Sie hat zwei künstliche Herzklappen, die manchmal im 6/8-Takt schwingen und sie zwingen, eine Gique (6/8-Tanz) zu singen.

DoRoh

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