: Als Frau in Rußland schreiben
Jelena Worontsowa
Eines Tages fragte mich mein Sohn, als er aus der Schule kam: „Sag mal, warum schreiben unsere Schriftstellerinnen denn immer Gedichte?“ - offenbar dachte er an Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa.
Ich antwortete ihm etwa folgendermaßen: In jeder Sprache fängt Literatur mit Dichtung an. Zuerst werden über das eigene Volk Heldenepen erzählt und Lieder gesungen, dann kommen Dichter, die schreiben das auf. Der erste große russische Dichter war Puschkin, er hat die Tür für alle anderen geöffnet, für Prosaschriftsteller und Dichter gleichermaßen. Das gleiche nun gilt für die Frauen, die wie eine andere, getrennte Nation sind. Als für sie die Zeit in Rußland gekommen war, da hörte man die ersten großen Worte wieder in Gedichten, und zwar von den Lippen Marina Zwetajewas und Anna Achmatowas.
Männer und Frauen stehen an verschiedenen Orten in der Gesellschaft, so erklärte ich weiter, und deshalb ist es ganz selbstverständlich, daß sie die Dinge unterschiedlich sehen. Frauen versuchen in ihrem Schreiben, die Wörter so zu setzen, daß sie diese eigene Wahrnehmungsweise auch zum Ausdruck bringen. Vermutlich ist das einfacher in Gedichten, da Dichtung direkter von der Inspiration lebt.
Aber in der Tat bleibt die Frage: Warum hat es, wenn Dichtung der Schlüssel zur Literatur sein soll, seit Achmatowa und Zwetajewa keine ebenso begabten Prosaschriftstellerinnen gegeben?
Man muß etwas bei der Geschichte der Frauen seit der Revolution verweilen, um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen.
Die Revolution gab den Frauen gleiche Rechte. Die Kommunisten versprachen ihnen Teilnahme in Staats- und Wirtschaftsmanagement. Sie sagten, daß alle Beschäftigungen und Berufe den Frauen offen, daß sie von der Plackerei des Haushalts befreit und Männer nie mehr ihre Vormünder und Unterdrücker sein sollten. „Gleichheit vor dem Gesetz garantiert nicht automatisch Gleichheit im wirklichen Alltag“, sagte Lenin.
In den ersten Jahren des Sowjetregimes versuchten Arbeiterinnen, Studentinnen der „Rabfaks“ - wie Arbeiterschulen damals genannt wurden - und Bauernmädchen, diese Worte der Kommunisten in die Praxis umzusetzen. Die Schwester meines Vaters zum Beispiel organisierte 1926 in ihrem Dorf einen kollektiven Landwirtschaftsbetrieb. Sie konnte ein Drittel des Dorfes davon überzeugen, daß dieser neue Lebens- und Arbeitsstil besser für sie sei. Ihre kleine freiwillige Kolchose existierte, ohne für die anderen zu einer Bedrohung zu werden, bis Stalin 1929 die Zwangskollektivierung verfügte. Nachdem die Behörden das Kollektiv meiner Tante um seine Unabhängigkeit gebracht hatten, konnten sie auch sie, die unabhängige Vorsitzende, nicht mehr gebrauchen. Nach dieser Erfahrung ließ meine Tante sich nie mehr auf eine öffentliche Tätigkeit ein. Wie die meisten Bauersfrauen arbeitete sie sich auf den Äckern den Rücken krumm und starb kurz nach dem Ende des Kriges ihr Leben nicht mehr als endlose Sorgen um ihre drei Kinder und knochenbrechende Arbeit.
In den dreißiger Jahren bestand die Propagandamaschinerie zäh auf dem Bild der Gleichheit der Frau. Wie früher schon rief man sie auf zu immer mehr und höheren Aufgaben: Sie durften lernen, Flugzeuge zu steuern und konnten als Delegierte gewählt werden. Aber all das hochtrabende Gerede und die neuen Berufe hatten weiterhin nichts mit wirklicher Gleichheit zu tun. Die Delegierten hatten keine wirkliche Macht, und die Frauen unter ihnen waren, ebenso wie die Pilotinnen, nur zum Vorzeigen da. Man veranstaltete das alles nur, damit die Leute weiterhin an die Partei glaubten und keine Sekunde an den humanitären Verkündigungen zweifelten - und damit die Arbeiter im Westen weiter von ihrem eigenen Sowjetparadies träumen konnten. Feuchtwanger und Romain Rolland waren, wie alle westlichen Links -Intelligenzler, zu Tränen gerührt.
Es gab jedoch einen weiteren Grund für das ständige Gerede über die Gleichheit der Geschlechter: Es verschleierte sehr wirkungsvoll die brutale Ausbeutung von Frauenarbeit. Es liefen Rekrutierungskampagnen, um sie zum Traktorfahren, zum Schwingen von Vorschlaghämmern, zur Arbeit auf Baustellen und zur Maloche in der Glut von Hochöfen zu bewegen. Und sie arbeiteten tatsächlich, nicht jedoch aus einem edlen kommunistischen Impuls heraus, sondern weil sie sich irgendwie ernähren mußten - nachdem die Landwirtschaft durch Zwangskollektivierung ruiniert war und in den Städten Lebensmittelknappheit herrschte. All diese Täuschung und Selbsttäuschung trug dazu bei, daß ihre wirkliche Gefangenenschaft im Alltag nur noch krasser wurde.
Die jungen Mädchen wollten studieren. Mit der Revolution war auch die Zeit allgemeiner und freier Bildung und Ausbildung angebrochen. Wer helle war, strengte sich an, auf Arbeitsplätze zu kommen, die der eigenen Begabung entsprachen - für die Frauen jedoch war es schwer, in Wissenschaft und Industrie an die Spitze zu kommen. Das neue Regime tat nichts, um sie von der kleinkarierten und auslaugenden Hausarbeit zu befreien. Es gab nicht genügend Krippenplätze, der Mutterschaftsurlaub war kurz und die Tageslöhne erbärmlich klein. In allen Berufen blieben Frauen in der Regel in niedrigen Stellungen. Sie gelangten nicht auf die Professoren- und Direktorenstühle, sondern mußten sich damit begnügen, Lehrerinnen, Diplom-Ingenieure oder normale Arbeiterinnen in den Tretmühlen des Alltags zu sein.
Dieser Stand der Dinge paßte ausgezeichnet ins Konzept des neuen Regimes. Stalin hatte eine Schwäche für alles Patriarchale und schaffte sogar die Koeduktion in den Schulen wieder ab, die von den Bolschewiken 1917 eingeführt worden war. Abtreibungen wurden wieder illegal und Scheidungen erschwert. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie in den fünfziger Jahren die Mädchen an meiner Mädchenschule alle Zöpfe tragen mußten. Wer seine Haare abschnitt, so wurde nahegelegt, hatte den ersten Schritt in die Verworfenheit getan.
Stalin starb 1953, und Chruschtschow kritisierte seine Politik. Als das moralische Klima des Landes sich zu ändern begann, blieb das auch nicht ohne Auswirkung auf die Situation der Frauen. Stimmen wurden laut, die es für barbarisch erklärten, Frauen an Brecheisen und Vorschlaghämmer zu stellen, und sie forderten, sie von schwerer körperlicher Arbeit zu befreien, mehr Krippenplätze bereitzustellen und die soziale Versorgung zu verbessern. Der Mutterschaftsurlaub wurde etwas verlängert, das Abtreibungsverbot wieder aufgehoben, und Scheidungen wurden einfacher gemacht. Aber auch jetzt sprach noch keiner die Wahrheit aus: daß die wirkliche Gleichheit, die einmal versprochen worden war, nie Realität geworden war.
Was? Keine Gleichheit? Wenn Frauen als Delegierte gewählt werden und eine sogar mit in den Weltraum durfte? Unsere Propagandisten zauberten Statistiken herbei: Verglichen mit der kapitalistischen Welt hätten wir, so behaupteten sie, den höchsten Anteil von Frauen als Ärzte, Ingenieure und Schriftsteller. Keiner erwähnte dabei, welche Arbeit sie tatsächlich machten, welche Gehälter sie bekamen und wie der Vergleich mit den Durchschnittsgehältern der Männer bei gleicher Qualifikation ausfiel. Die sowjetische Gesellschaft war immer noch nicht bereit, solche Fragen zu diskutieren. Man war an den militärischen Stil des patriarchalen Systems gewöhnt und fand es ganz selbstverständlich, daß überall Männer die Befehle gaben.
In den sechziger Jahren arbeitete ich in der Redaktion der einflußreichsten Jugendzeitung des Landes. Fast alle meine männlichen Kollegen nährten die Hoffnung, eines Tages Chefredakteur zu werden. Ich dachte im Traum nicht daran. Diese Tür, das wußte ich, würde sich für mich nicht öffnen. Eine Frau kann vielleicht an der Spitze eines Schulbuchverlags stehen. Das ist akzeptabel und stärkt die Statsitik über weibliche Führungskräfte. Aber eine Frau als Chefin einer wichtigen Zeitschrift oder Zeitung? Ich habe nie auch nur von einer einzigen gehört. Die Frauenquote wird in Prestigeeinrichtungen streng eingehalten. Die übliche inoffizielle, natürlich - Erklärung ist: Aber wir haben doch schon einen Juden, zwei Parteimitglieder, zwei Frauen...
Es hat in den letzten 20 Jahren eine permanente Diskussion der „Frauenfrage“ in der Presse gegeben, jedoch schrumpft sie im Kern auf die ziemlich simple Frage zusammen: „Kann ein Mann ein Mann bleiben, wenn er beim Putzen hilft, und kann eine Frau Frau bleiben, wenn ihr Hauptinteresse nicht dem Haushalt, sondern ihrer Arbeit gilt?“ In ihren real existierenden Leben haben die Frauen weitergemacht, sich mit ihren Alkoholiker-Ehemännern herumgeschlagen, haben in Warteschlangen angestanden und sind vor Erschöpfung zusammengebrochen. Inzwischen haben Zeitungen und Zeitschriften in ihrem Versuch, das alte Familienideal wiederzubeleben, die Frauen dazu aufgerufen, sanftmütig und geduldig ihren fehlgeleiteten Ehemännern zu vergeben wie so manche Penelope ihrem Odysseus. Selbst jetzt, wo ein neuer Anfang in der Sowjetunion gemacht wird, scheint die Zeit noch nicht reif für eine angemessene und vernünftige Diskussion der „Frauenfrage“. So war denn auch nichts ungewöhnlich an der „witzigen“ Antwort, mit der einer unserer berühmten Schriftsteller, der für seinen eifrigen Einsatz im Perestroika-Lager bekannt ist, die Frage eines westlichen Lesers nach schreibenden Frauen beiseite wischte. „Ach, wissen Sie“, sagte er, „Männer können wohl besser schreiben, aber Frauen sind für anderes gemacht...“
Glücklicherweise stimmen ihm da nicht alle zu. Ein anderer Schriftsteller, ebenfalls nicht ganz unbekannt und in fortschrittlichen Kreisen wohlgelitten, sagte mir vor nicht allzulanger Zeit, daß es ihm im Rückblick so vorkäme, als sei das Gewissen der Schriftstellerinnen größer gewesen als das ihrer männlichen Kollegen, und daß sie ingesamt offener schrieben...
Es gibt für diese größere Aufrichtigkeit von Schriftstellerinnen einige sehr einsichtige Gründe. Ich möchte einen erwähnen, der zwar etwas wie ein Klischee wirkt, nichtsdestotrotz aber ein guter Grund ist.
Natürlich sind wir alle verführbar. Sowjetische Schriftstellerinnen jedoch wissen, daß sie selbst bei größter Kompromißbereitschaft keine Aussicht auf einen lukrativen Posten in der Hirarchie des literarischen Betriebs haben. Es fällt schlicht niemandem ein, ihnen einen solchen Posten anzubieten. Es gibt keine Frau als Vorsitzende der Schriftstellergewerkschaften. Sie bekommen nicht ihren Anteil am Kuchen, sprich an Redakteursstellen oder einträglichen Auslandsreisen. Daher bleiben sie ganz einfach an ihren Schreibtischen sitzen und arbeiten, jede so, wie es ihr Talent, Begabung und familiäre Umstände erlauben. Anders gesagt, das Leben der meisten Schriftstellerinnen spielt sich, ganz wie das ihrer weiblichen Romangestalten, fern von den Feilschereien und Tricksereien ab, von denen die ehrgeizige Literatürbürokratie umgeben ist. Das also wäre ein Grund, warum die Frauen meist weniger korrumpiert sind.
Bei den Frauen gibt es natürlich genau wie bei den Männern die Schreiberlinge und die wirklichen Begabungen. Dennoch kann man ihre Arbeiten nicht so einfach in einerseits Geschreibsel und andererseits Literatur einteilen, denn wenn auch das Maß an Talent bei Schriftstellerinnen unterschiedlich ist, so gehen doch fast alle - wie eifrige Schulmädchen - sehr ernsthaft mit ihrer Arbeit um; und in diesem Sinne kann keine ihrer Arbeiten vollständig beiseite geschoben werden.
In keinem Arbeitsgebiet, ob in Industrie oder Wissenschaft, Erziehung oder Literatur, hatten die Frauen es leicht. Aber sie haben weitergemacht - wie unermüdliche Karrenpferde, die ihre Lasten vorwärtsbewegen. Unter ihnen gibt es Damen, die sich mit langweiligen und öden Texten an die Jugend wenden und sich über Moral auslassen; es gibt die Schreiberinnen wüster Melodramen und empfindsamer Liebesgeschichten. Aber es gibt eben auch massenhaft gute Schriftstellerinnen. Besprechungen ihrer Bücher erscheinen jedoch nur selten in der Presse, und ihre Bücher werden nie in den größten Auflagen gedruckt. Dennoch wartet das Lesepublikum auf die neuen Arbeiten der Begabtesten meist schon mit Ungeduld; sie sind schnell ausverkauft, und manchmal werden sie zur Sensation.
In den letzten 30 Jahren hatte Irina Grekowa einen wichtigen Platz in der Erwartung des sowjetischen Lesepublikums. Sie veröffentlichte zuerst in der chruschtschowschen Zeit des Tauwetters. Ihre erste Kurzgeschichte, Damskii Master, war eine Sensation. Dort beschreibt sie mit freundlichen, humorvollen Worten das Leben eines Underdog, ein bis dahin in der sowjetischen Literatur unansprechbares Thema. Die Hauptperson der Geschichte ist eine Damenfriseuse. In einer Zeit, als die Helden der sowjetischen Literatur nach wie vor Stahlarbeiter, Piloten oder Ingenieure zu sein hatten, war eine Geschichte über eine Damenfriseuse so über alle Maßen erstaunlich, daß man sich das heute kaum noch vorstellen kann.
Später stellte sich dann heraus, daß Grekowa durchaus etwas zu sagen hatte über Ingenieure, besonders solche der Rüstung. Sie ist nämlich Mathematikerin, Doktorin der Naturwissenschaften und hat lange Zeit an der Flugakademie des Militärs unterrichtet. Ihre Doktorarbeit und mehrere Unterrichtsbücher hat sie über Bombardements geschrieben. Nach ihrer Geschichte über die Damenfriseuse schrieb sie über ihre Kollegen. Eine der Geschichten, Za prohodnoy („Hinter den Kulissen“), beschäftigt sich mit dem Alltag in einem wissenschaftlichen Militärforschungsinstitut; ein anderes, Na ispytaniakh (Experimente“), ist über Menschen, die neue Waffen testen.
Grekowa wurde bald beschuldigt, den gesamten Berufsstand zu verleumden und verlor dann ihre Arbeit in der Flugakademie. Seitdem widmet sie sich nur noch dem Schreiben. Die beiden Hauptthemen ihrer Arbeiten sind das Alltagsleben der technischen Intelligenz und die Problematik der Underdogs in der sowjetischen Gesellschaft geblieben. Irina Grekowa ist inwzischen fast 80 Jahre alt und wird vielleicht nicht mehr viel schreiben können. Aber ich möchte die Aufmerksamkeit der Leser darauf lenken, daß sie es war, eine Frau, die als erste über das „heimliche“ Leben der Wissenschaftler aufrichtig geschrieben hat.
Bisher nehmen in der gesamten Literatur der Sowjetunion Bücher von Frauen immer noch nur einen bescheidenen Platz ein. Frauen halten sich meist aus den politischen Intrigen des Literaturbetriebs fern, und ihre Ansichten sind meist radikaldemokratischer als die vieler berühmter männlicher Zeitgenossen. Die Begabtesten unter ihnen gehen allerdings noch härter und unbarmherziger mit der Welt ins Gericht als die Männer. Die Härte eines Frauenlebens lädt nicht zu Sentimentalität ein, und die erbärmlichen und mit zuviel Bürden behängten Leben ihrer Heldinnen lassen dann auch dem Leser wenig Raum für Illusionen über die patriarchale Gesellschaft. Es war aus diesen Gründen außerordentlich schwer für diese Schriftstellerinnen, unter Breschnew überhaupt zu publizieren. Vermutlich hat man im Westen über die Not von Tatjana Tolstoja und Ludmilla Petruschewskaja gehört. Bis vor kurzem noch konnten sie nichts veröffentlichen. Aber auch viele andere konnten nur mit größter Mühe den Mangel an Verständnis, die Vorurteile und Indifferenz des Literaturbetriebes überwinden. Falls die Demokratisierung in der UdSSR weitergeht, wird auch die Stimme der Frauen deutlicher hörbar werden.
Unsere Schriftstellerinnen müßten einem großen Ruf gerecht werden. Zwetajewa und Achmatowa fingen vor der Revolution zu schreiben an, und ich glaube, es ist angemessen, wenn man sagt, daß die, die nach ihnen kamen, keine Schuld daran trifft, wenn ihr Leben ihnen nicht die Möglichkeit bot, ihr ganzes Potential auszuleben. Um die eigene Begabung zu entdecken, braucht man Freiheit - und es gab keine.
Zum Abschluß möchte ich noch auf eine große Schriftstellerin hinweisen, die nicht mehr am Leben ist. Anna Barkowas erster und letzter Gedichtband wurde vor 70 Jahren von Alexander Blok, dem Dichter des Symbolismus, begeistert aufgenommen. Seitdem ist nicht eine einzige Zeile von Barkowa mehr veröffentlicht worden - bis zum Herbst letzten Jahres, als 'Ogonyok‘ eine kleine Auswahl ihrer Gedichte vorstellte und über ihr Leben berichtete. Anna Barkowa hat 25 Jahre ihres Lebens in Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern zugebracht. Sie wurde das erste Mal 1934 eingesperrt, und ihr letzter Urteilsspruch fiel 1957, unter Chruschtschow. 'Ogonyok‘ berichtet, daß ihr einziges „Verbrechen“ in einigen sorglosen Bemerkungen in einem privaten Brief bestanden hat. Zehn Jahre nach ihrer Rehabilitation starb Anna Barkowa in völliger Vergessenheit. Im Krankenhaus und bereits geistig umnachtet glaubte sie sich in den letzten Wochen ihres Lebens wieder im Gefängnis und nannte ihr Krankenzimmer ihre „Zelle„; zehn Tage vor ihrem Tod sprang sie im Fieber aus ihrem Bett und rannte auf den Flur unter dem Eindruck, man brächte die Gefangenen ins Bad und wolle sie zurücklassen...
„Unter dem sinnlosen Gewicht des Rades lag ich zerbrochen und in den Schmutz gedrückt“, schrieb sie in einem ihrer Gedichte. Selbst die winzige Auswahl in 'Ogonyok‘ demonstriert dieses Talent, das da wahrhaftig zerbrochen worden ist. Vielleicht kann eine wörtliche Übersetzung selbst ausländischen Lesern einen Eindruck vermitteln von Anna Barkowas Größe:
Steppe, Himmel und ein wilder Wind, Ruin, Elend Verworfenheit. / Allmächtiger Gott, jetzt sehe ich, daß es auch die allmächtige Hölle gibt. / Aber die Hölle ist nicht jenseits des Grabes, sondern hier, um mich herum. / Was für ein sinnloser Schneesturm des Bösen, er brennt heißer als Feuer und Pech.
Jelena Worontsowa arbeitete lange Zeit für die Jugendzeitschrift 'Komsomolskaja Prawda‘. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in Moskau und schreibt insbesondere über Jugendliche in der Sowjetunion.
Deutschsprachige Ausgaben von Irina Grekowa: Der Lehrstuhl, 1981; Der Witwendampfer, 1983; Anonyme Briefe, 1988 (alle DDR); eine Kurzgeschichte von Ludmilla Petruschewskaja, Musikstunden, erschien in der Sammlung Sieben sowjetische Schriftsteller, herausgegeben von Christina Links, 1985 (Novitätenkassette 2 im Verlag Volk und Welt, Berlin, DRR), z.Zt. wird in Freiburg ihr Theaterstück Cinzano gespielt, der Luchterhand Verlag bereitet einen Band mit Erzählungen vor.
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