: „ B E R L I N E R L I N I E “
■ Gastkolumne von Johannes Eisenberg
Dem gegenwärtigen Senat, vor allem den von der AL gestützten Senatorinnen und dem Bau- sowie Innensenator, sei einmal in Erinnerung gerufen, was die von Jochen Vogel entwickelte Berliner Linie eigentlich war. Ab Dezember 1980 hieß „Berliner Linie“, daß der Senat versuchte, Neubesetzungen zu verhindern, wo immer er konnte. Gleichzeitig wollte der Senat mit der Besetzerbewegung (Altbesetzer) eine Infrastruktur für Verhandlungen aufbauen. Angesichts des flächendeckenden Leerstandes konnte die Polizei damals schon aus technischen Gründen nicht vor jedem leeren Hause rumstehen. Nach der berühmten Randale in der Nacht vom 12.12.1980 wogte eine Besetzerwelle duch die Stadt. Oftmals wurden Besetzungen erst nach Wochen „entdeckt“, weil die Hauseigentümer sich so wenig um ihre Häuser kümmerten, daß sie buchstäblich keine Ahnung hatten, was in den Häusern vor sich ging. Ab März, April 1981 verlor die Besetzerbewegung an Kraft für weitere Neubesetzungen, weil sie mit der Sicherung der bereits besetzten mehr als 160 Häuser, dem Kampf gegen die massive Kriminalisierung der Bewegung und ihrem allgemeinpolitischen Kampf (Wahlkampf, Hungerstreik der RAF-Gefangenen) alle Hände voll zu tun hatte. In dieser Situation entstand das, was als „Berliner Linie“ zur politischen Handlungstechnik Jochen Vogels wurde:
1. Neubesetzungen wurden verhindert (und über den Begriff war nicht zu streiten, Neubesetzungen war alles, was am Tage der Besetzung aufgegriffen wurde).
2. Räumungen von Altbesetzungen wurden nur nach Stellung eines Strafantrages ausgeführt und nur dann, wenn der Eigentümer unverzüglich eine Nutzung des zu räumenden Hauses nachweisen konnte.
Unter dem CDU-Senat verkam diese Berliner Linie dann dazu, daß - wo immer es Eigentümer oder Senat paßte - geräumt werden konnte, indem die auserkorene Besetzergruppe räumungsreif geschlagen und verhandelt wurde, wenn es gerade paßte. Es gab Fälle, wo allein Fragen der Stadtbildpflege (die CDU mochte keine Transparente an prominenten Straßenkreuzungen) eine Räumung rechtfertigten.
Nach der Logik des jetzt herrschenden Senats hätte es die Besetzerbewegung der frühen achtziger Jahre also nicht gegeben und wird es auch jetzt keine geben, es sei denn, sie wäre in der Lage, gegen die Polizei Neubesetzungen durchzusetzen. Dabei wollen wir gerade Herrn Nagel einmal daran erinnern, daß er in der Vergangenheit nicht müde wurde, die Verdienste der Hausbesetzer um die Beseitigung von Mängeln der Stadtsanierung zu rühmen. Die Besetzungen der vergangenen Woche haben deutlich gemacht, daß es auch heute völlig ungelöste Probleme bei alten Mietshäusern gibt, für deren Lösung der herrschende Senat bislang keine Vorschläge gemacht hat. Diese Probleme wurden offenbar bei den Verhandlungen um die Koalition schlicht vergessen: Es sind dies die über die ganze Stadt verteilten Häuser, in denen die Eigentümer - häufig vorsätzlich - geltendes Recht brechen, indem sie die Häuser verwahrlosen lassen, durch Mißwirtschaft in die Zwangsverwaltung und Zwangsversteigerung führen, Mieterrechte massiv verletzen und die Haussubstanz beschädigen. Bei mindestens drei der jüngst besetzten Häuser haben die Eigentümer und die die Grundstücke besichernden Banken moralisch längst jedes Recht verloren, über die Grundstücke zu verfügen. Daß ihnen nun auch kurzfristig rechtlich die Grundstücke entzogen werden und einem verantwortlichen Umgang mit Häusern und Bewohnern zugeführt werden, ist allein Sache des herrschenden Senats. Massives Vorgehen durch Bußgelder im Rahmen der Wohnraumzweckentfremdungsbestimmungen, Ersatzvornahmen und eine gesetzliche Grundlage für die öffentlich-rechtliche Zwangsbewirtschaftung solcher Grundstücke durch Treuhänder der Bewohnerinteressen sind eine Bringschuld eines jeden Senats, der erklärt, keine Neubesetzungen mehr zulassen zu wollen. Solange diese Schuld nicht beglichen ist, gibt es nicht den geringsten Anlaß, Besetzern solcher Häuser weniger moralische Berechtigung zuzugestehen als den Besetzern der frühen achtziger Jahre. Im Gegenteil: Sie erfüllen eine öffentliche Aufgabe, indem sie sich der unheilvollen Allianz von Spekulanten und Kredithaien entgegenstellen. Das muß gefördert, nicht verhindert werden. Es gibt eine neue Generation opferbereiter Staatsbürger. Der Senat sollte dieses Potential nutzen, nicht zerstören.
Jony Eisenberg ist Rechtsanwalt
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