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Reformersieg in der UdSSR

Eindeutiger Reformtrend bei den Wahlen in der Sowjetunion / Parteihonoratioren durch Wählervotum der Lächerlichkeit preisgegeben  ■  Von Matthias Geis

Berlin (taz) - Blamable Niederlagen für einflußreiche Parteihonoratioren - überwältigende Ergebnisse für reformfreudige und unabhängige Kandidaten: Was sich mit Jelzins Sieg in Moskau bereits gestern abzeichnete, wird durch die Ergebnisse der Volkskongreßwahlen aus Leningrad, Kiew und dem Baltikum weiter bestätigt. Die sowjetische Bevölkerung hat damit die ihr erstmals seit siebzig Jahren gewährte Möglichkeit zur Kandidatenauswahl genutzt, um den seit Jahren autokratisch regierenden Parteigrößen eine möglicherweise entscheidende Niederlage zu bereiten.

Ein eindeutiges Mißtrauensvotum verpaßten die Wähler den konservativen Parteikandidaten in Leningrad, der zweitgrößten Stadt des Landes. Fast die gesamte Parteielite konnte sich nicht für ein Kongreßmandat qualifizieren: Der Parteichef der Stadt, Anatoli Gerassimow, erhielt ganze 15 Prozent. Sein weitgehend unbekannter Konkurrent, der Schiffbauingenieur Juri Boldirow, kam dagegen auf 74 Prozent. Auch das stellvertretende Politbüromitglied Juri Solowiow, der Leningrader Bürgermeister Chodirow sowie sein Stellvertreter konnten sich bei der von ihnen regierten Bevölkerung nicht durchsetzen.

Ähnliche Trends brachten auch die bisherigen Ergebnisse aus der Ukraine: Hier scheiterten der Bürgermeister sowie der Parteichef der Hauptstadt Kiew. Auch in vier weiteren Städten der Unionsrepublik hatten die kandidierenden örtlichen Parteichefs das Nachsehen. Der erste Parteisekretär der Ukraine, ein umstrittener Veteran der Breschnew-Ära konnte sich nur deshalb behaupten, weil er nicht in Kiew, sondern in einer Kleinstadt angetreten war. Im Baltikum konnten sich fast ausnahmslos diejenigen Parteioberen durchsetzen, die den unabhängigen Volksfrontbewegungen nahestehen. In Lettland fiel Ministerpräsident Bresis dem Plebiszit zum Opfer. An seiner Stelle sitzt ein populärer Journalist im Kongreß. Parteichef Vagris konnte seine knappe Mehrheit in Riga angeblich nur mit den zur Wahl abkommandierten Flotteneinheiten sichern. Fortsetzung Seite 2

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In Litauen eroberte die nationale Bewegung Sajudis 39 von 42 Wahlkreisen. Der Ministerpräsident und der Vorsitzende des regionalen Parlaments scheiterten. Ähnlich er folgreich ging die estnische Volksfront aus den Wahlen her vor.

In vielen Wahlkreisen der Sowjetunion werden nach den vorliegenden Ergebnissen Stichwahlen notwendig, weil keiner der Kandidaten die erforderliche Stimmenmehrheit erzielte. Aber auch in einigen der Bezirke, in denen konservative Parteimitglieder als Alleinkandidaten antraten und so die neue Wahlordnung umgingen, werden Nachwahlen fällig, weil die Mehrheit der Stimmberechtigten die Namen der „Einzelkämpfer“ durchgestrichen

hatten.

Die sowjetische Presse präsentierte sich in ihren Wahlberichten am Dienstag sehr zurückhaltend und spiegelt damit die Ratlosigkeit der Parteiführung angesichts des als sensationell zu wertenden Plebiszits wider.

Bislang ist nicht abzusehen, wie der konservative Flügel das katastrophale Abschneiden aufnimmt. Für Gorbatschow bedeutet das Ergebnis zwar eine unerwartet deutliche Zustimmung zu seiner Reformlinie, doch steht zu befürchten, daß sein bisheriger Verständigungskurs durch den Wahlprotest der BürgerInnen erschwert wird. Denn seit den Wahlen vom Sonntag wissen die Konservativen deutlicher als je zuvor seit Gorbatschows Machtantritt, was ihnen blüht, wenn der Reformkurs sich entgültig durchsetzt.

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