Vatermutterkind - ein Akrobatenstück

■ „Ödipus“: Johann Kresniks letzte Inszenierung in Heidelberg

Die Kleinfamilie. Mutter, Vater - das Kind. Die Eltern beginnen ihr Zerstörungswerk. Irgendwann spielt auch das Kind seine Macht aus. Dann: die Gesellschaft. Eine militärisch zuckende, hysterisierte Masse. Das ist das Thema des Heidelberger Choreographen Johann Kresnik, immer wieder, egal welchen Stoff er durch sein Tanztheater-Räderwerk dreht. Er ist damit über Deutschland hinaus bekannt geworden, neben Pina Pausch der deutsche Meister des Tanztheaters. In Heidelberg hat er sich eine Gemeinde geschaffen, die seine oft bis an die Grenzen des Erträglichen reichenden Bilder feiert. Als Vorlagen hat er sich immer wieder Künstlerbiographien genommen, Silvia Plath (1984), Pasolini (1986).

Pasolini. Nicht von ungefähr verabschiedet sich Kresnik nach zehn Jahren mit dem antiken Ödipus-Mythos von Heidelberg. Was hat das Tanztheater Neues zu sagen, nachdem die Freudsche Psychoanalyse ihn verfälschte? Und vor allem was hat Pasolini schon gesagt? Dessen Edipo Re zeigt Ödipus durch die Brille der modernen, psychoanalytisch geprägten Antiken-Sicht: Der junge Ödipus macht sich auf, von Korinth nach Theben, seinem Schicksal zu entfliehen. An einer Wegkreuzung trifft er, ohne es zu wissen, seinen Vater. Bei Pasolini bringt Ödipus ihn mit Genuß um. Er wird König von Theben, nicht nur weil er das Sphinx-Rätsel löst, sondern auch, weil er den eigenen Vater mordet. Seine Biografie ist vor allem eine Macht-Geschichte, darin liegt die Verbindung zu den großen Königsdramen Shakespeares.

Wie Pasolini betont Kresnik diesen Aspekt; sein Ödipus ist Teil einer Trilogie, die sich mit dem Phänomen Macht auseinandersetzt: Letztes Jahr war Macbeth zu sehen (mit Barschel in der Badewanne, was dem Heidelberger Theater zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Bombendrohung einbrachte), im nächsten Jahr folgt King Lear.

Ödipus. Fünf riesige Bleiportale sind schon die Bühne. Die Portale, in ständiger Bewegung für die Auf- und Abgänge, spielen mit, fallen dröhnend ins Schloß. Das für sich ist Mord- und Totschlag. Mörderisch mutet auch an, was Kresnik seinen Solotänzern abverlangt; sein choreographisches Theater hat sich in den letzten Jahren immer mehr zur Akrobatik hin entwickelt. Ödipus (Joachim Siska) ist im Dauereinsatz, und das muß man sich vorstellen wie virtuosen Eiskunstlauf - zwei Stunden am Stück. Gespielt wird die Geschichte des Ödipus, begleitet von Vatermord und dem Beischlaf mit der Mutter, wie ein Ostinato in ständiger Repetition. Kresnik nimmt die Blutschande nicht so ernst hiermit überzeugt er am meisten. Der Sohn rutscht mit seiner Mutter Iokaste (Pearl Seppanen) auf dem Boden herum, sie treiben es auf allen Vieren, auch anders, und am Ende haben sie alle Beischlaf-Stellungen persifliert, die Kolle uns dereinst so mühsam beibrachte. Werner Pirchner hat für diesen Part eine Musik geschrieben, wie wir sie aus Slapstick-Stummfilmen kennen.

Die Musik. Kresniks Produktionen sind auch deshalb aufwendig, weil die Musik von mehreren Komponisten eigens komponiert, produziert und für die Inszenierung maßgeschneidert wird - Herbert Pirchner ist im Ödipus ein kleines Kunstwerk gelungen: Toncollagen, in denen es Knackt wie beim Genickbruch; Disco-Musik mit splitterndem Glas; Anklänge an die Meditationsgesänge buddhistischer Mönche; barocke Tafelmusik; leitmotivisch eine Solovioline, herzzerreißend melancholisch.

Bei vielen seiner Tanztheater-Inszenierungen geriet Kresnik in eine regelrechte Bilderwut, die Bilder entwickelten sich zu teilweise monumentalen Arrangements. Effekt: Der Tanz geriet ins Hintertreffen. Ödipus ist da vergleichsweise sparsam gestaltet - die Portale fallen so schwer ins Gewicht, daß weitere Monumente auf der Bühne nur stören würden. Das fördert den Tanz, er hat heiter-gelöste Momente, eine Seltenheit bei Kresnik. Den blinden Seher Teiresias (Amy Coleman) etwa bürstet er gegen den Strich. Bei Sophokles ist er der alte Mann, der archaisch ungebeugt dem Ödipus standhält und an der Last zu tragen hat, daß er mehr sieht als die anderen. Bei Kresnik tanzt Teiresias behende in knallrotem Frack, er hat etwas von einem eleganten Entertainer, erinnert an Chaplin. Weil er mehr sieht, tanzt er schöner als die anderen.

Johann Kresnik geht nach Bremen. Zum Schluß ist ihm in Heidelberg noch einmal eine Inszenierung gelungen, in welcher der Gehalt seiner Ideen zwei Stunden Tanztheater rechtfertigt. Das war 1980 schon einmal der Fall. Er hat damals Heiner Müllers Hamletmaschine tanzen lassen und als einer der ersten gezeigt, wie den monolithischen Texten Müllers beizukommen ist - und zwar nicht mit Mitteln des Sprechtheaters. Seit letztem Jahr arbeitet er mit dem Wiener photorealistischen Maler Helnwein zusammen, der im Ödipus für Bühne und Kostüme verantwortlich ist. Diese Zusammenarbeit wird sich fortsetzen. Es wäre zu wünschen, daß sie nicht noch einmal effekthascherische Kapriolen zur Folge hat, wie das Macbeth-Barschel-Badewannenbild (Marat meinst du wohl. d.L.). Ödipus wurde Gott sei Dank verschont.

Jürgen Berger