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Die Rückkehr der Industriegesellschaft

■ Die Schlüsselbranchen von einst, Maschinenbau, Chemie- und Bauindustrie, feiern in Berlin fleißige Urständ und treiben das Wachstum voran / Erschreckende Zunahme der Stromverbrauchs im verbrauchsgüterproduzierenden Gewerbe ist ein Fall für die neue Umweltsenatorin

Ein „kräftiges Wachstum“ bescheinigt das SPD-nahe Berliner „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ (DIW) dem letzten Jahr der alten CDU/FDP-Landesregierung. Mit exakt drei Prozent Zuwachs des Berliner Bruttosozialkproduktes blieb die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt jedoch immer noch deutlich hinter dem Bundesdurchschnitt von 3,5 Prozent zurück. Peinlich ist es dabei, daß ausgerechnet die Branchen, die in der Stadt seit der Wende besonders hofiert wurden, herzlich wenig zum Wachstum beigetragen haben, nämlich die Elektroindustrie und Nachrichtentechnik sowie der Dienstleistungsbereich, während die Schlüsselbranchen früherer Epochen fleißige Urständ feierten. Besonders deutlich war dies beim Maschinenbau, der Bauindustrie, in der Chemiebranche - und der Erzeugung von Süßwaren. Erhalten die Tonnenideologen wieder neuen Auftrieb? Ein deutliches Warnzeichen dafür könnte darin liegen, daß auch der Stromverbrauch wieder deutlich angezogen hat.

Die Industrie insgesamt, umschrieben mit dem Begriff „Verarbeitendes Gewerbe“, hat kräftig zugelangt: Fünf Prozent Wachstum verzeichnen die Statistiker, und das war sogar mehr als im Bundesdurchschnitt. Der Beschäftigungsrückgang in diesem Wirtschaftsbereich konnte darob bereits im Frühjahr 1988 aufgefangen werden und die Zahl der Arbeitskräfte sogar „beträchtlich aufgestockt werden“. Auch die Chemie sei „aufgrund ihrer ausgeprägten Ausrichtung auf Pharma- und Körperpflegeprodukte ein stabiler Wachstumsfaktor“ (auch fünf Prozent).

Aber auch wenn das Wachstum zurückgekehrt ist, so hat es seine Sinnkrise noch lange nicht überwunden. Das, was sich seine heftigsten Verfechter davon vor allem versprechen, löst es beileibe nicht ein: den Abbau der Arbeitslosigkeit. „Anders als im Bundesgebiet war in Berlin die Arbeitslosigkeit 1988 nochmals deutlich höher als im Jahr zuvor. Im Jahresdurchschnitt waren 96.700 Personen arbeitslos; das sind 6.100 oder 6,7 Prozent mehr als 1987“, lautet die Zählung der Wirtschaftsforscher. Dabei hatte man sich zudem in der Zählung derjenigen, die Arbeit haben, kräftig verhauen. Während das statistische Landesamt von 883.000 Erwerbstätigen ausgegangen war, mußte es sich von den Volkszählern eines Besseren belehren lassen: 915.000 haben die Erbsenzähler zusammengebracht. Das DIW führt den rapiden Anstieg der Arbeitslosenzahlen auf den Zuzug der Aussiedler und Übersiedler aus den Ostblockstaaten zurück. „Im vergangenen Jahr waren es 20.000 Personen - rund ein Zehntel aller in die Bundesrepublik Zugezogenen dieser Gruppe.“ Nach überschlägiger Rechnung dürfte 1988 der Zuwachs an Erwerbspersonen aus dieser Wanderungsbewegung in Berlin rund 10.000 betragen haben.

Interessant sind die Strukturveränderungen innerhalb der Gruppe der Arbeitslosen, die das Institut konstatiert. Die Anzahl der nicht ausgebildeten Erwerbslosen ist danach anteilmäßig und absolut rückläufig. Immer mehr Arbeitslose hätten eine betriebliche oder gar universitäre Ausbildung. Auch dieses Phänomen sei im Zuzug aus Ost- und Mitteleuropa begründet: „Diese Personen sind formal häufig besser qualifiziert als die heimischen Erwerbslosen.“

Insbesondere aufgrund des schnell wachsenden akademischen Proletariats konzentrieren sich die Vorschläge des DIW an den neuen Senat zum Abbau der Arbeitslosigkeit vor allem auf umfassende Neueinstellungen in den Bereichen Kinderbetreuung und Hauptschulen, die über die im Zusammenhang mit der Arbeitszeitverkürzung notwendigen neuen Planstellen hinausgehen sollten. Für das laufende Jahr erwarten die Wirtschaftsforscher eine Abschwächung des Wachstums auf 2,5 Prozent, weil das Geld nicht mehr so locker sitzen wird: Die private Nachfrage wird zurückgehen.

Geradezu erschreckend für die künftige Umweltpolitik ist der festgestellte Anstieg im Stromverbrauch über die letzten Jahre (für 1988 gilt dies aufgrund der relativ milden Witterung nicht). Ins Rutschen kommt damit das Argument der Gegner neuer Kraftwerke, daß der Stromverbrauch ohnehin immer weiter hinter dem Wirtschaftswachstum und erst recht hinter den Prognosen hinterherhinke. 1987 übertraf der Stromverbrauch-Zuwachs mit 3,3 Prozent denjenigen des Wachstums um immerhin 1,3 Prozentpunkte. Er wird allein von den Unternehmen getragen, der private Verbrauch stagnierte nach wie vor. Die neue Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt kann sich sogleich mit neuen Ideen zur Stromeinsparung profilieren, denn daran hakt es besonders: „Aufgrund des starken Preisverfalls bei Mineralölprodukten seit Mitte der achtziger Jahre haben die Bemühungen um eine rationelle Energienutzung tendenziell nachgelassen.“ Das „verbrauchsgüterproduzierende Gewerbe“ ist in geradezu sträflicher Weise verschwenderisch mit Strom umgegangen: Nur 2,8 Prozent mehr produziert, aber 8,1 Prozent mehr Strom durch die Leitungen gejagt.

ulk

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