: Zwischen Schacht und Salon
■ Vor 70 Jahren drehte der Bildhauer Wilhelm Lehmbruck in Berlin den Gashahn auf
Johann Heinrichs
Seine Skulpturen sind eigentlich gar nicht visuell zu erfassen.“ So Joseph Beuys 1986 über die Plastiken Wilhelm Lehmbrucks. Beuys, der seine eigenen Arbeiten spektakulär inszenierte, mit Tschingbum und „viel Charme“ (Hrdlicka), bezeichnete den vergrübelten, stillen Bergmannssohn aus Meiderich, der nie mit demonstrativer Selbstsicherheit über seine Arbeiten reden oder sie entsprechend präsentieren konnte, als seinen Lehrer, der ihn überhaupt zur Skulptur gebracht habe. Ob sich Beuys hier einen Vorgänger ausgesucht hat oder seine Arbeit wirklich als konsequenten Anschluß an Lehmbruck versteht, ist hier nebensächlich. Wesentlich ist, daß der gesellschaftlich engagierte und wirkungsvolle Beuys in den Werken des häufig nur am Rande Beachteten wichtige Impulse für die gestalterischen Aufgaben der Gegenwart sieht.
Lehmbruck, geboren 1881, wuchs auf neben der Schachtanlage „Concordia“ in Meiderich (heute Duisburg-Meiderich), wo sein Vater als Hauer untertage arbeitete. Trotz harter Arbeit gab es wenig Geld. Konfirmationsanzug aus Papier. Volksschulklassen mit 50 oder mehr Schülern. Fromme Leute und all die typischen Proletariersachen, die dann doch die eigentümlichen Individuen formten und eben nicht in Arbeiterposen gerannen - alternativ gequält, leidend und niedergedrückt oder heldenhaft aufrecht mit entschlossenem Hammer in der breiten Faust -, vielmehr sonntags der Kirchenbesuch und hinterher die dünne Rindfleischsuppe in der properen Wohnküche.
Ob das Kind Wilhelm Lehmbruck gerne zeichnete, schnitzte und modellierte, wie sein Biograph Paul Westheim wissen will, ist nicht sicher, aber glaubhaft. Sicher ist, daß der Vierzehnjährige, möglicherweise angeregt durch seinen ersten Förderer, seinen Volksschullehrer Diepenbrock, nach Abbildungen aus dem Lesebuch Kopien von Sandbildern anfertigte. Mit einer dieser Kopien, gearbeitet nach Schlüters Großem Kurfürsten (heute Charlottenburger Schloß, Berlin) bewarb er sich - auf Anregung Diepenbrocks an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf: er wurde angenommen. Hiermit ist der Beginn der Tragödie seines künstlerischen Lebens bezeichnet: Sie bestand darin, sich der allgegenwärtigen Forderung der Herrschaften stellen zu müssen, die was Repräsentatives für ihre Repräsentation haben wollten, und gleichzeitig von denselben Herrschaften an einem menschenwürdigen, freiheitlichen Leben gehindert zu werden. Er sollte seine Unterdrücker feiern, sollte „das Schlachthaus mit Geranien schmücken“ (G.Eich).
Gerade die deutschen Herrschaften zeichneten sich durch eine enorme Stupidität und Borniertheit aus, die es den dienstleistenden Künstlern unmöglich machte, auch nur ansatzweise eine progressive Kunst zu entwickeln. Der Spyri -Illustrator und Bismarck-Schranze Lenbach wurde in München gefeiert, an allen Akademien arbeiteten Standbild -Produzenten, wie z.B. Carl Janssen in Düsseldorf, Lehmbrucks späterer Lehrer. Wichtige KünstlerInnen widersetzten sich, die Ausnahmen. Lehmbruck hat sein Leben lang versucht, ohne offenen Bruch mit dem System der Kapitalisten, Offiziere und Kanzleisekretäre auszukommen und dennoch eine authentische Kunst zu entwickeln.
In der Kunstgewerbeschule lernte er kleine Nippsachen herzustellen; in der Akademie entsprechend größere. Er verfertigt einen lebensgroßen Siegfried mit Schwert und Germanenhelm und eine Badende, die sicher auch als Lampenfuß oder Kandelaber einen guten Absatz gefunden hätte.
Der junge Lehmbruck tappte in all dies hinein, ausgehend von einer naiven, kleinbürgerlichen Kunstauffassung der „großen Kunst“, die „der verirrten Menschheit, die Wahrheit mitteilt“ - “...in unermeßlicher Liebe“ (W.L.). Um so bemerkenswerter ist, daß bereits sehr früh seine Unzufriedenheit mit dem Akademismus erkennbar wird. Intuitiv macht er sich auf die Suche nach einer skulpturalen Formulierung seines Menschenbildes. „Skulptur ist das Wesen der Dinge, das Wesen der Natur, das, was ewig menschlich ist“ (W.L. an einer Stelle seiner dürftigen schriftlichen Hinterlassenschaft). Was hatte mit solchen Vorstellungen jung Siegfried zu tun oder Bismarck, Kaiser, Krupp und Moltke?
Erst mit seinem selbstgewählten Tod, 1919, hat Lehmbruck seine Suche beendet. Frühe Einflüsse
Constantin Meunier, belgischer Maler und Bildhauer, pathetischer Schilderer sozialen Elends der Industriegesellschaft und Darsteller heroischer Arbeiterfiguren (in seiner Spätzeit auch wieder Verfertiger schnuckeliger Elfenbeinfigürchen religiösen Inhalts) wird Lehmbrucks erstes Vorbild. Meunier unterschied sich von Lehmbruck stark durch seinen biographischen Hintergrund und
-wie sich herausstellte - in einer künstlerischen Auffassung. Meunier, dem Kleinbürgertum entstammend, kannte Industriearbeiter und deren Leben aus seinen spät durchgeführten, von Zola (Germinal) angeregten Besichtigungen und Begehungen der Arbeitswelt. Lehmbruck war in dieser Welt aufgewachsen, für die er u.a. die Entwürfe eines bombastischen Monuments Arbeit machte. Lehmbruck las lieber Hölderlin statt Marx oder Bebel.
Es lohnt sich, darüber zu spekulieren, ob es ihm vielleicht besser gegangen wäre, wenn er sich eindeutig zu der Klasse bekannt, der er entstammte, und nicht versucht hätte, sich jenem wenig griffigen Freigeistertum zu verschreiben, das sich für ihn letzten Endes als historischer Popanz herausstellte. Andererseits kann man vermuten, daß er die Sozialisten - besonders die marxistischen - fürchtete. Gegen ihre nach bürgerlicher Auffassung fix und fertige Weltdeutung, die quasi für jede offene Frage einen ideologischen Deckel bereithielt, hatte Lehmbruck bloß eine schummrige Idee der Skulpturen zu setzen: „Und sie (meine Hände) greifen und suchen umher und finden es nicht, und sie greifen in das Nichts und die Dunkelheit“ (W.L.). So einer hätte in der Auseinandersetzung mit Marxisten bloß kläglich untergehen können.
Meunier war nichts für Lehmbruck. Und nach einigen Versuchen (Schlagende Wetter, Steinwälzer, Bettlerpaar) wandte er sich ab und suchte woanders weiter.
1904: große Rodin-Ausstellung in Düsseldorf, wo Lehmbruck studierte. Die wuchtigen Plastiken des Franzosen, die sich wenigstens ihres intellektuellen Gehalts wegen vom hohlen Bombast teutonischer Machart abhob, beeindruckten den 23jährigen und wirkten noch bis in die Pariser Zeit. Lehmbruck mußte aber feststellen, daß ihm die gewollten großen Gesten nicht lagen. Vielleicht waren ihm die übermächtigen Posen dieser Werke zu durchschaubar - trotz des Eindrucks, den sie hinterließen.
Es folgten weitere Jahre des Tastens und Versuchens. Kleinere Arbeiten. Daneben oder dabei entstand eine Menge der für Lehmbruck bezeichnenden lockeren Zeichnungen, schemenhaften Skizzen und Kritzeleien, von denen die meisten im Papierkorb oder sonstwo verschwanden, weil Lehmbruck „mehr als sorglos“ (Wertheim) mit ihnen umging. Es waren gestalterische Stichworte des Bildhauers, der mehr und mehr nur noch in Formen dachte. „Lehmbrucks Skulpturen sind nur zu erfassen mit einer Intuition, wobei einem ganz andere Sinnesorgane ihr intuitives Tor offen machen, und das ist vor allen Dingen das Hörende - das Hörende, das Sinnende, das Wollende, das heißt es sind Kategorien in seiner Skulptur vorhanden, die niemals vorher vorhanden waren.“ Diese von Joseph Beuys in der ihm eigenen Ungelenkheit gesprochenen Sätze lassen etwas von dem erahnen, was sich bei der Betrachtung besonders auch der Skizzen und Zeichnungen erschließt.
Eine dieser Zeichnungen (1906), klein, unaufwendig, vorläufig, stellt den Entwurf für ein Heine-Denkmal dar, an dessen Realisation überhaupt nicht zu denken war. Statt dessen durfte er die Grabsteine für Industrielle und Entwürfe für Silberwarenfabriken herstellen - Salonschmuck. Paris
1910 ging Lehmbruck nach Paris, damals noch unbestritten die Weltstadt, in der die bildnerischen Künste vergleichsweise die größte Rolle spielten. Der Aufenthalt und das Leben hier lösten in Lehmbruck eine überraschende Schaffensfreude aus. Aus der rheinischen Provinz gelangte er hier mitten in die Szene hinein. Archipenko, Brancusi, Picasso, Modigliani waren seine Nachbarn auf dem Montparnasse. Radierungen entstehen in Fülle, zügig mit der kalten Nadel in die verkratzten und fleckigen Platten hineingezeichnet, ohne die Spur von akademischem Ziseliereifer. Sie machen deutlich: Lehmbruck fängt wieder irgendwo ganz vorne an.
Bevor er im plastischen Bereich zu ersten authentischen Gestaltungen kommt, lehnt er sich in seiner ersten großen Arbeit Stehende weibliche Figur an den - damals noch Outsider Aristide Maillol an. Der antikisierend-ausgewogene Realismus des Franzosen führt bei Lehmbruck zu offensichtlicher Gefälligkeit. Die Gefälligkeit gefällt denn auch und wird gekauft. So hat er denn wieder einmal den Salon bedient.
Seine Unrast läßt ihn jedoch nicht bei dem erfolgversprechenden Gestaltungsrezept verharren. Schnell überwindet er den Einfluß Maillols und dessen harmonisierender Erdmutter-Erotik. In den weiteren Pariser Arbeiten negierte er die akademische Proportionsvermessung und häufig auch die handschmeichlerische Oberflächenbehandlung. 1911 gelang ihm mit der Knienden ein Durchbruch zur eigenen Plastik. Diese Kniende - eine in Duisburg aufgestellte Kopie wurde 1928 von deutschen Werterhaltern zerstört - bildete den Beginn einer Reihe von plastischen Arbeiten, die Lehmbrucks Menschenbild der Pariser Zeit deutlich machen, oder deutbar. Nachdenklich ist dieser Mensch, aufmerksam gewesen, jetzt ein bißchen wehmütig. Nicht von statuarischer Bodenständigkeit, sondern leicht, manchmal den individuellen Raum mit verhaltener Bewegung ausnutzend - die Teutonik der gelängten Gliedmaßen ruft den Eindruck hervor. Keine beschwingte Leichtigkeit, vielmehr eine, die aus der Fragwürdigkeit menschlichen Tuns, aus der Suche nach Sinn erwächst. Nicht: Hier bin ich, steh‘ ich, lieg‘ ich, stark und schwer, und ich bin höchst wichtig, ja ich bin das Bild und das Maß der Welt und aller Dinge. Sondern: Wer sind wir? Was machen wir? Was sollen wir tun? Bei alldem wird keine Verachtung und kein Überdruß den Menschen gegenüber formuliert, nichts von Miesepriemigkeit und Zynismus. In einigen Arbeiten (Emporsteigender Jüngling und deutlich noch später Der Gestürzte) wird immerhin der Mensch in tragischer, möglicherweise von Lehmbruck gar nicht beabsichtigter Lächerlichkeit geschildert. Der Bildhauer geht aber (vielleicht: noch) nicht so weit wie vierzig Jahre später Giacometti, der die verunsicherte Leichtigkeit Lehmbrucks ins Extreme treibt und den Menschen als fragiles Opfer des Daseins darstellt. Kniende, Große Sinnende, Sitzendes Mädchen, einige Torsi und auch das Bildnis von Anita Lehmbruck bezeugen eine wenn auch angeschlagene - Bejahung des Menschen, die unter anderem durch die implizite Erotik zum Ausdruck kommt.
In Paris arbeitet Lehmbruck für seine Verhältnisse übermäßig. Er beschickt viele Ausstellungen in Deutschland, Frankreich und 1913 in New York. 1912 unternimmt er eine Italienreise. Die vier kurzen Jahre sind wohl seine glücklichsten. Der gehorsame Rekrut
Lehmbruck, für den Paris in jeder Hinsicht eine Öffnung war, soll als deutscher Reichsbürger im Heer der alldeutschen Chauvinisten gegen Frankreich marschieren. Aus Frankreich raus, in die Uniform rein und wieder zurück. Lehmbruck, hier wieder deutscher Arbeitersohn, der Gehorsame, Runterschlucker und der die Proletarierdisziplin von Haus aus intus hat, kommt gar nicht auf die Idee, den Gehorsam zu verweigern und sich abzusetzen.
Lehmbruck wird als Sanitäter eingesetzt und muß helfen, die in den Massenschlächtereien Verstümmelten am Leben zu erhalten. Hier trifft er sie wieder, seine Leute, die erst in den Schacht und dann in die Schlacht geschickt worden waren von den Herrschaften, deren Salons und Arbeitszimmer er mit seinen Arbeiten schmücken sollte.
Und 1915 sollte er die Offizierscasinos und Generalstabszimmer schmücken: Im Januar wurde er als Kriegsmaler nach Straßburg eingezogen. Einzelheiten aus dieser Zeit sind noch nicht bekannt. Es überrascht jedoch nicht, daß dieser spezielle Dienst nur vier Monate währte. Der Mensch sowie der Künstler Lehmbruck konnte seine Auftraggeber nicht zufriedenstellen. Er wurde wieder in Berlin als Sanitäter eingesetzt und ein Jahr später wegen Schwerhörigkeit vom Dienst freigestellt.
Neben dem Dienst im Lazarett arbeitete Lehmbruck gestalterisch weiter. 1914/15 entstand die Rückblickende. Die durch den Standortwechsel Paris-Berlin verursachte Krise, der durch die Kriegsbarbarei bewirkte Absturz lösen bei dem Bildhauer den Versuch aus, den Menschen als Subjekt zu erhalten. Die Verzweiflung, die in diesem Versuch steckt, fließt in die Gestaltung derRückblickenden ein: Die in Paris erreichte Leichtigkeit ist nicht mehr da, die gelöste Bewegung weicht dem Krampf, die Nachdenklichkeit der Angst.
Gestaltete Lehmbruck in der Rückblickenden den Menschen noch in allgemeiner Form als leidendes Subjekt, so wird in der Plastik Gestürzter (auch Sterbender Krieger 1915/16) explizit das Opfer dargestellt. Aber nicht in pathetischer Anklagepose, wie es sich anbot, sondern armselig und auf tragische Weise lächerlich, weil es das Opfer seiner selbst ist, Verantwortung trägt für sich und für sein Leid. Vor dem Hintergrund des Nationalrausches und Kriegstaumels von 1914, denen sich ja auch die Sozialdemokratie ergeben hatte und die dann in den großen Jammer mündeten, leuchtete es ein, daß diese Arbeit auf größtes Mißverständnis und scharfe Ablehnung stoßen mußte. Lehmbruck kannte seine Klasse, die der Arbeiter, zu gut und respektierte sie zu sehr, als daß er in ihr nur eine Horde oder Herde manipulierbarer Idioten hätte sehen können, die sämtliche Verantwortung an den Kaiser und die Herren Generäle abgetreten hatte, eine Plastik, die nicht zum „stillen Gedenken“ auf den Soldatenfriedhof gehört, sondern vor das Gewerkschaftshaus mitten in der Stadt.
Die letzten Jahre von Lehmbrucks Leben sind gekennzeichnet von größter Unrast. Ständige Reisen zwischen Zürich, wohin ihn Liebermann geholt hatte, und Berlin machen ein kontinuierliches Arbeiten unmöglich. Es entstehen nur noch Fragmente, Skizzen und einige kleinere Plastiken. Ein hydrozephalischer Denkerkopf, ein traurig in sich zusammengesunkener Grübler, einige Portraits und ein verzückt betendes Mädchen bilden die gestalterische Begleitung des von Desorientierung und Verstörtheit gezeichneten Lebensendes. Zwei Frauen
1908 heirateten Wilhelm Lehmbruck und Anita Kaufmann. Letztere hatte in einer Kunsthandlung in Düsseldorf gearbeitet, wo sie und Lehmbruck sich auch kennengelernt hatten. Diese mutige und entschlossene Frau bildete den bekannten pragmatischen lebenszugewandten Gegensatz zu dem introvertierten, vergrübelten Bildhauer. Sie war sein einziges Modell, sie war die Mutter der drei Kinder, reiste mit ihm herum und machte die praktisch notwendigen Sachen. Mitunter griff sie auch kurzentschlossen in den Arbeitsprozeß ein und schaffte die Tonmodelle, die aufgrund von Lehmbrucks Arbeitsweise eigentlich nie fertig waren, in eine Werkstatt und ließ die Abgüsse anfertigen.
In der später erfolgten Auseinandersetzung mit den Nazis, die Lehmbrucks Arbeit natürlich als „entartet“ bezeichneten, zeigte Anita Lehmbruck einen beeindruckenden Mut, der viele Plastiken vor der Vernichtung durch die faschistische Kulturbürokratie rettete.
Zwei Jahre vor seinem Tod zeigte sie ihm selbst eher die kalte Schulter, wenn man Elisabeth Bergners Autobiographie glauben will. Sie lehnte ihn ab, weil er sich im Suff mit einer anderen eingelassen und sich dabei eine - wie er meinte: unheilbare - Krankheit zugezogen hatte.
Mit Elisabeth Bergner begegnete ihm übrigens, soweit bekannt, die zweite entscheidende Frau in seinem Leben, oder Restleben, denn die beiden lernten sich erst 1917 in Zürich kennen. Sie, die junge, quicklebendige Schauspielerin, total aufgeregt auf ihrem Weg zum Erfolg, stellte für Lehmbruck, der sich in Leben und Kunst heruntergearbeitet hatte, eine Personifikation des entglittenen Lebensglücks dar, an die er sich verzweifelt hängte. Oft saß sie ihm für ein Portrait, mit dem er dauernd wieder von vorne anfing, und las ihm dabei Hölderlintexte vor. Mit der Zeit wurde ihr der mittlerweile bereits schwermütig zu nennende Bildhauer in seiner stillen Verzweiflung lästig. Ihr Engagement in Berlin veranlaßte ihn, so oft wie möglich in diese Stadt zu reisen, der er noch ein Jahr zuvor entflohen war. Sie wich ihm aus, das letzte Mal einige Tage vor seinem Tod.
Wenige Tage vor seinem Tod unterschrieb Lehmbruck auch den Appell des Anthroposophen Rudolf Steiner - „An das deutsche Volk und die Kulturwelt!“ -, einen Appell, den der von Steiner stark beeinflußte Beuys später als den Versuch lobte, einen „sozialen Organismus auf einem völlig neuen Fundament aufzubauen“. Es ist ein fragwürdiger Aufruf, politisch unbeholfen, antirevolutionär und bildungsbürgerlich konservativ. Bei dem schmalen Politikverständnis Lehmbrucks, noch dazu in seiner angeschlagenen Verfassung, ist es verständlich, daß ihn der Vorschlag für eine Staatsordnung beeindruckte, in dem der nicht näher bezeichnete „Geist“ eine grundlegende und konstituierende Bedeutung erhalten sollte.
Lehmbrucks Ungewißheit und sein rastloses Unentschlossensein wird noch dadurch besonders deutlich, daß er - ebenfalls wenige Tage vor seinem Tod - seinem Freund von Unruh gegenüber äußert, er müsse vielleicht doch zu den Spartakisten gehen, die gerade Berlin in Bewegung hielten.
Von Elisabeth Bergner sagte Lehmbruck einmal, sie sei zu spät gekommen. Vielleicht sind ihm auch die politischen Gedanken, die anthroposophischen wie die marxistischen, zu spät gekommen. Wahrscheinlich aber ist, daß all das ganze Hin und Her seines Lebens, zwischen Paris, Berlin und Zürich, zwischen Krieg und Arbeit, zwischen Anita und Elisabeth, zwischen Schacht und Salon ihn in dieser letzten Zeit seines Lebens in die desolate Verzweiflung trieb. Die letzten Fotos zeigen einen verstörten Menschen. Da er den Widersprüchen stets mit seiner ganzen Person begegnete, war seine Kraft verbraucht, als er 38 Jahre alt war. Auch seine Ernennung zum Mitglied der Preußischen Akademie der Schönen Künste konnte ihm den spärlichen Optimismus nicht zurückgeben, der ihn zwischenzeitlich erfüllt hatte. Am 25.März 1919 drehte er in Berlin den Gashahn auf und vergiftete sich. Joseph Beuys: „Ich möchte dem Werk von Wilhelm Lehmbruck seine Tragik nicht nehmen.“
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