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Dick und dünn-betr.: "Mit bangem Blick auf die Waage", taz vom 23.3.89

betr.: „Mit bangem Blick auf die Waage“, taz vom 23.3.89

Anna Garbe schlittert in ihrem Artikel leider haarscharf am Thema vorbei. Sie erwähnt nicht die Fetten, die, die nicht kotzen können (oder wollen), also diejenigen Frauen, denen man ihre Sucht, ihren psychischen „Makel“ sofort ansieht. Wer oder was stempelt sie zu „Dicken“? Jede selbst, die in den Spiegel sieht, jede/r, der den Blick abwendet oder die Augen niederschlägt, wenn er einem dicken Menschen begegnet, jede/r, der Dicke tagtäglich mit gutgemeinten Ratschlägen traktiert (du mußt unbedingt abnehmen!).

Ich stelle mal die wilde These auf: Wenn das Begriffspaar schlank/dick nicht mehr relevant wäre, wenn jede/r so angenommen würde, wie er/sie eben gerade beschaffen ist, gäbe es keine Eßsucht mehr.

Eßsucht ist kein persönliches, sondern gänzlich ein gesellschaftliches Problem. Warum haben Frauen so große Schwierigkeiten, sich in eine Therapie zu begeben? Weil, so sage ich, sie ganz genau spüren, daß damit nur an den Symptomen herumgedoktert wird, daß ihre Sucht erst keine mehr ist, wenn ihre Umwelt begriffen hat, daß ihr Fett eine Reaktion auf sie (die Umwelt) ist. Beispielhaft (im negativen) dafür ist der Satz aus dem Artikel: „Meist reicht eine Gesprächstherapie, in der die Alltagsprobleme zu bewältigen gelernt werden...“ Das ist für mich der reine Horror. Ich muß mich therapieren, weil meine Mitmenschen mit meinem Fettsein nicht leben können. Frauen wehrt euch freßt weiter.

Gabriela Stork, Reutlingen

(...) Am meisten hat mich Dein Satz aufgeregt, „Nicht das Fressen muß frau sein lassen, sondern das Erbrechen.“ Denn, ganz davon abgesehen, daß Du Dich zu lange daran aufgehalten hast, was Bulimie nicht ist, wäre durch eine deutliche Beschreibung klar geworden, daß Fressen und Kotzen zusammengehören. (...) Diese Sucht ist der Schrei nach Leben.(...)

Jedes im Freßflesh runtergeschlungene Essen stopft - nicht nur für diesen Moment - die einzelnen Lebenssporen, Bedürftigkeiten und die Lebendigkeit jeder Frau. Jedes ausgekotzte Essen schleudert die Unzufriedenheit in den Gulli und nicht gegen die Bedingungen und die Verantwortlichen von diesem Lebensfrustquark.

Ist es denn ein Wunder, daß Frauen in der Erbärmlichkeit, die gesellschaftliche Realität uns bietet, aufschrein? Nur sollten wir es wirklich tun und nicht, wie uns so prima anerzogen, gegen uns selbst richten. Unser Leben gehört in unsere Hand. Dein Artikel ist mir zu vorsichtig. Er beschreibt zu wenig den ungeheuren Leidensdruck, die oft scheinbare Ausweglosigkeit, den zwanghaften Charakter, den grenzenlosen Selbstekel und Selbsthaß und macht zu wenig Mut, radikal an die Ursachen dieser Sucht zu gehen und sie wie's SPK sagte, zur Waffe zu machen.

Monika

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