piwik no script img

Post aus der Moderne

Paris, 8. April 1793 (Tagebuch des deutschen Jakobiners Georg Forster) - Von weitem sieht alles anders aus, als von nahem betrachtet. Dieser Sinnspruch drängt sich mir hier oft auf. Ich selbst hänge noch fest an meinen Prinzipien; aber ich finde sehr wenig Menschen, die ihnen noch treu sind. Alles ist nur Leidenschaft und blinde Wut, wütender

Parteiengeist

und Mitgeris

sensein, und es

wird niemals zu

vernünftigen

und gesetzten

Zielen führen.

Auf der einen

Seite finde ich

Klarsicht und

Talente, aber

sie ohne Mut

und Kraft; auf

der andern

physische

Energie, die,

weil durch

Ignoranz geleitet, nur dann eine positive Wirkung zeigt, wenn ein Knoten um jeden Preis zerschlagen werden muß. Oft genügte es jedoch, ihn zu entknoten; aber man zerschneidet ihn. Zur Zeit neigt alles zum Extremen. Ganz gewiß glaube ich nicht, daß unsere Feinde gewinnen werden; aber die Nation wird ermüden, weil sie immer wieder zur Mobilisierung gezwungen wird. Wer wird am längsten aushalten? Das ist die ganze Frage. Der Gedanke, daß die Willkürmacht in Europa gänzlich unerträglich werde, falls Frankreich nicht jetzt sein Ziel erreicht, revoltiert mich ohne Unterlaß, bis zu dem Punkt, daß ich daran nur denken kann, wenn ich jeden Glauben an die Tugend, das Recht und die Gerechtigkeit fallenlasse, und ich möchte lieber an diesen Werten verzweifeln als diese Hoffnung scheitern sehn. Hier gibt es nur sehr wenig kühle Köpfe, oder aber sie halten sich versteckt. Die französische Nation ist, was sie immer war, leichtlebig und flatterhaft, ohne Festigkeit, ohne Wärme, ohne Liebe, ohne Wahrheit, alles Kopf und Einbildungskraft, aber ohne Herz noch Gefühl. Und damit gelingen ihr die großen Dinge. Denn genau dieses kalte Fieber gibt den Leuten die stete Betriebsamkeit und läßt alle edlen Empfindungen hervortreten, während es Enthusiasmus immer nur für die Idee, niemals jedoch für die Sache gibt. 18.GERMINAL

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen