piwik no script img

MUTTERMANN TRÄGT AUS

■ „Theatre Danse Grotesque“ zeigt „Hidamari - Sunday in Life“

Gerade noch kann man eine schwarze Stellwand erkennen, über die wie Spinnweben Watte gezogen ist, dann wird es dunkel. Ein sirrender Ton, kurz vor der Unerträglichkeit und etwas Licht - man sieht verschwommen einen barhäuptigen Mann, in einem vielschichtigen, prächtig morbiden Kostüm, dessen Gesicht ebenfalls mit Watte eingesponnenen ist.

Unendlich langsam kommt diese Erscheinung in Bewegung, beginnt nach Ewigkeiten unter dem intensiver und unruhig werdenden Sirren zusammenzuzucken, um schließlich die Hände in seinen Mantelsaum zu verkrallen und diesen wie einen Vorhang emporzureißen. Drei zitternde, mit weißem Lehm beschmierte Frauen kauern darunter, ein Gewirr von Armen und Leibern. „Keine Zeit“ stößt der geheimnisvolle Mantelträger hervor und gibt damit gleichsam das Signal zur Geburt: die drei rollen und kugeln auf die Bühne, stürzen zu den Kunststoffwänden am hinteren Bühnenrand und beginnen daran zu kratzen und zu schaben, während der so entleerte Mann eine Art Veitstanz aufzuführen beginnt.

Was sich im folgenden abspielt, bis die Drei am Ende der Vorstellung wieder in den Mantel zurückkehren, was hier gehüpft und gesprungen, gewunden, gekrochen, gealbert, gelacht, gewickelt, gepustet, also was hier getanzt wird, zu einer bunten Mixtur der verschiedensten Musikrichtungen, ist, laut Programmblatt, eine Mischung des japanischen Butoh -Tanzes mit Elementen des Ausdruckstanzes der 20er Jahre. Eine sehr eigene, sehr starke Mischung. Fremdartige, dingliche, tierische Bewegungen münden plötzlich in bekannte Konventionen und verwischen sich sogleich wieder in einem Zusammenspiel mehrerer Körper in ein pulsierendes Etwas.

Yumioko Yoshioka, Minako Seki, Henriette Henrichs und Delta Ra'l (Raimund Dischner) bieten in zahlreichen phantastischen Kostümen (Henriette Henrichs) ein Spiel der unerforschten Möglichkeiten. Aus dem vielgliedrigen Leib, gebildet von den drei Tänzerinnen, entsteht ein Stierkampf, ein Pferderennen, sie kämpfen gegeneinander, miteinander. Da verselbständigen sich die Glieder, da tyrannisiert eine Hand den Rest des Körpers, erwachsen tausenderlei Wesen aus einem einzigen. Dann wieder „realistische“ Episoden: eine Frau springt „Himmel und Hölle“, bleibt stehen, heult, schreit, kreischt. Delta Ra'l, als Zahnarzt verkleidet, eilt herbei, untersucht sie. Er ist machtlos gegen den unstillbaren Schmerz, quält sie fast bei der Untersuchung, resigniert schließlich und stimmt in das trostlose Geschrei mit ein, das sich aber sogleich in Lachen wandeln wird.

Menschliches Miteinander im Wechsel mit den unerschöpflichen Ausdrucksformen eines einzelnen Wesens, das ist das faszinierende Spannungsfeld, in das die Vier jene absurde Komik legen, die man durch Grimassenschneiden und bewegliche Verwandlungsfähigkeit erreichen kann. Es gibt zwar auch Momente, in denen die Wiederholung einzelner Abläufe nicht mehr fesselt, jedoch vollzieht sich stets ein krasser Themawechsel, noch bevor die Langeweile um sich greifen kann, ein neues Spiel beginnt.

Am Ende hat man dann doch das Gefühl, als sei hier eine Geschichte erzählt worden, eine Geschichte in der Zeit und gegen die Zeit. In jedem Fall aber eine Geschichte, die sich jede Tänzerin, jeder Tänzer, jede Zuschauerin und jeder Zuschauer selbst erschließen muß.

Petra Kohse

„Theatre Danse Grotesque“: „Hidamari - Sunday in Life“, vom 7.-30. April (tägl. außer Mo, Di) um 20 Uhr im Künstlerhaus Bethanien zu sehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen