: „Öko-Virus“ belagert Manfredonia
Straßenschlachten und Überfälle auf Parteibüros wegen Schließung einer Chemiefabrik in Apulien / Gewerkschaften, Kommunisten, Sozialisten stehen Umweltschützer und besorgten Bürgern gegenüber ■ Aus Manfredonia Werner Raith
Die Gegend hat es seit eh und je in sich: Wenige Kilometer südlich liegt das berühmte Cannae, wo 216 v.Chr. Hannibal die Römer aufrieb, etwas nördlich soll im 5.Jahrhundert Erz und Racheengel Michael so oft gelandet sein, daß man ihm eine Kathedrale baute, und östlich liegt Barletta, wo 13 italienische Ritter 1503 so heftig mit französischen Kollegen aneinandergerieten, daß ein Volksaufstand gegen die welschen Besatzer daraus wurde.
Erinnerungen, die hier in Manfredonia, am „Stiefelsporn“ in Nordapulien, keineswegs nur dem Geschichtsunterricht angehören: „La disfida di Manfredonia“ steht an der Wand des seit Tagen besetzten Rathauses geschrieben in Anlehnung an die „Herausforderung der 13 Ritter“ von 1503. Der Feind heißt heute „Enichem“, eine riesige Chemiefirma, auf deren Wirken die Leute aus Manfredonia das Pflanzen- und Bäumesterben, die sich häufenden Pseudo-Krupp-Fälle bei Kindern und den totalen Zusammenbruch ihres einst blühenden Fremdenverkehrs zurückführen. Um ihre Schließung zu erzwingen, haben Fischer und Kaufleute, Beamte und Tourismusfirmen einen Generalstreik ausgerufen.
Doch der „Feind“ sitzt nicht nur im Enichem-Management: „Die dort oben“, sagt uns einer der seit Samstag rund um die Uhr zum Heiligen Michael betenden Geistlichen vor dem Dom, und er meint nicht die im Himmel, sondern die in den weiter stadtaufwärts gelegenen, verbarrikadierten Partei- und Gewerkschaftsbüros, „müssen so schnell wie möglich zur Vernunft kommen, sonst gibt es hier Tote.“ Die Belagerten Kommunisten, Sozialisten und die Gewerkschaften CGIL und UIL - sprechen indes schon von „bürgerkriegsähnlichen Unruhen“. „Wenn wir die Enichem schließen“, so ein PCI-Funktionär per Megaphon aus dem Fenster, „dann könnt ihr auf die Bäume klettern und dort Futter suchen.“
Ein gebildeter Kollege von der sozialistischen UIL hat eine andere Erklärung: „Das muß ein neues Virus sein, die sind alle vom Ökologismus angesteckt, allen voran der Bürgermeister.“ Der, Matteo Quintadamo, Christdemokrat und trotz parteioffizieller Rüffel nicht zur Chemie-Räson zu bringen, steht breitbeinig vor der Zufahrt zur Enichem - ihm steckt noch in den Knochen, daß er letzten Herbst zu spät geschaltet hat, als das Giftschiff „Deep Sea Carrier“ in seine Gewässer einlaufen sollte. Die Kommunalwahlen kommendes Jahr, weiß er, kann er nur gewinnen, wenn er beim Protest mitmacht, den mehr als 90 Prozent der Bevölkerung unterstützen. Und das nicht ohne Grund: Mit einer Unsensibilität sondergleichen hat Italiens Regierung gerade das verseuchte Manfredonia zu einem der insgesamt 15 Zentren ernannt, in dem neue Entsorgungsanlagen gebaut werden sollen, und die nicht einmal einen Kilometer vor der Stadt gelegene Enichem hat den Auftrag in Höhe von umgerechnet einer halben Milliarde Mark an sich gezogen.
Vergeblich die Versuche, in letzter Minute die Bürger durch ein paar Zugeständnisse (hinsichtlich der Filter und der jährlichen Verbrennungsmenge) zu beruhigen. Die Fronten sind fest zementiert: Die Sozialisten sind ihrem Umweltminister Giorgio Ruffolo verpflichtet, einem der Urheber der Standortwahl, die Kommunisten der Region haben offenbar beim letzten Parteikongreß die einleitenden Worte ihres neuen Parteichefs Achille Occhetto verschlafen, der den Umweltschutz zum „wichtigsten aller künftigen Probleme“ ausgerufen hat, und die Gewerkschaften fahren wie eh und je den alten Kurs „Fabriksicherung vor Volksgesundheit“ trotz manch nachdenklicher Worte des ebenfalls neuen Vorsitzenden Bruno Trentin zum „Interessenausgleich zwischen Umweltschutz und Arbeitsplatz“. Erstaunlich abwesend, bisher wenigstens, die Polizei: Nachdem die örtlichen Carabinieri-Mannschaft während der einleitenden Demo am vergangenen Samstag laut PCI- und PSI-Lamento „eher mit den Aufrührern fraternisiert als uns geschützt hat“, zögern die Behörden, wie im Herbst eine halbe Brigade in die 50.000-Einwohner-Stadt zu entsenden - ohne genau zu wissen, wen sie denn nun vor wem schützen sollen. Möglicherweise fürchten die zuständigen Politiker aber auch, daß die Ordnungshüter bei ihrer Rückkehr aus Manfredonia das ökologische Virus überall hin verbreiten.
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