: Gegen den gymnasialen Geist
Eigenwilliger Bildungsexperte und SPD-Mitglied Peter Rüdell will Gymnasien auflösen und Oberstufenzentren einführen / Dem SPD-Bildungspolitik-Kritiker droht Parteiausschlußverfahren ■ Aus Düsseldorf J. Nitschmann
Der SPD-Bildungsexperte Peter Rüdell (47), der bislang zu den maßgeblichen Schulentwicklungsplanern in Nordrhein -Westfalen gehörte, soll offenbar aus der Partei ausgeschlossen werden. Ein entsprechendes Parteiordnungsverfahren hat der SPD-Bezirksvorstand Ostwestfalen beantragt, wie am Wochenende in Düsseldorf bekanntgeworden ist. Der Sündenfall des Sozialdemokraten: Rüdell hat die Selektionsmechanismen an den bundesdeutschen Oberschulen, denen die lern- und leistungsschwachen Schüler zum Opfer fielen, mit Auschwitz verglichen.
Bei einem Gesamtschulseminar des DGB Ende vergangenen Jahres im westfälischen Lage hatte der SPD-Bildungsexperte die Auffassung vertreten, an den bundesdeutschen Gymnasien und in ihrer Lehrerschaft seien „Elemente der Aufklärung und von Auschwitz aufs Engste verschmolzen“. Rüdell: „Auschwitz und Buchenwald waren nicht der große Betriebsunfall in der deutschen Geschichte. Im deutschen Gymnasium finden sich Elemente von beidem, der Aufklärung und von Auschwitz, wieder.“
In einem Schreiben an den Landesvorsitzenden der SPD -Arbeitsgemeinschaft für Bildungsfragen (AfB), Bernt Dopheide, hat sich Rüdell, der zu den Fachberatern des Regierungspräsidenten Düsseldorf gehört und mit der von ihm geleiteten „Projektgruppe Bildung und Region“ den Städte und Gemeindebund sowie zahlreiche Kommunen bei der Neugründung von Gesamtschulen berät, nachdrücklich zu seinen umstrittenen Thesen bekannt und diese weitgehend verteidigt. Offen tritt Rüdell in dem 16seitigen Brief an seinen Genossen Dopheide für eine Auflösung sämtlicher Gymnasien und die Abschaffung der gymnasialen Oberstufe an den Gesamtschulen ein. Statt dessen fordert er die flächendeckende Errichtung von Gesamtschulen in der Sekundarstufe I und die Gründung von „Oberstufenzentren“, in denen die gymnasiale Oberstufe (Klassen elf bis 13) und Berufsschule aus Gründen der Chancengleichheit zusammengefaßt werden sollen.
In den Parteiprogrammen der SPD propagierte Gesamtschulen in der herkömmlichen Form (inklusive gymnasialer Oberstufe) sieht der SPD-Politiker Rüdell einen bildungspolitischen Bluff: „Wo ist denn der pädagogische Fortschritt, wenn in der Langform-Gesamtschule nach Klasse zehn 60 Prozent in die beruflichen Schulen ausgeschwitzt werden, während es im Gymnasium bis zur Klasse zehn nur 25 Prozent sind“, so Rüdell an den AfB-Landesvorsitzenden Dopheide.
Der Rüdell-Brief löste innerhalb der nordrhein -westfälischen SPD Empörung und Betroffenheit aus. Rüdell sei ein „exzellenter Bildungsplaner“, dessen politische Vorstellungen „zwischen Genie und Wahnsinn“ lägen. Das von dem ostwestfälischen SPD-Bezirksvorstand betriebene Parteiordnungsverfahren - so war in Düsseldorfer SPD-Kreisen zu hören - sei allerdings nicht so sehr auf den unsinnigen Auschwitz-Vergleich, sondern vielmehr auf Rüdells geharnischte Kritik an der Bildungspolitik seiner eigenen Genossen und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zurückzuführen: Führende SPD-Bildungspolitiker und GEW -Funktionäre in Nordrhein-Westfalen sind nach den Worten Rüdells „in ihren Köpfen gymnasialisiert“. Der SPD -Bildungsexperte prangert in seinem Schreiben Genossen an, die durch Kabinettsbeschluß der Regierung Rau Oberstudiendirektor eines Gymnasiums geworden seien „und, anstatt es in Richtung Gesamtschule oder Oberstufenschule zu treiben, mit einem bilingualen Zweig dem Gymnasium als der höheren Schule mehr Legitimität zuführen würden, als es je ein strukturkonservativer Philologe tun könnte“. In der Mehrzahl aller Fälle schütze die SPD-Mitgliedschaft „die ungestörte militante Vertretung der Interessen des Gymnasiums“.
Der von Rüdell wegen seiner konservativen Politik ebenfalls heftig attackierte Düsseldorfer Kultusminister Hans Schwier (SPD) reagierte bislang lediglich beamtenrechtlich formal auf diesen Vorgang: Er habe die Überprüfung des „gesamten Personalvorgangs“ angeordnet; diese sei bislang nicht abgeschlossen. Von den inhaltlichen Forderungen des SPD -Bildungsexperten nach Abschaffung des Gymnasiums und der Gründung von Oberschulzentren, in die die Berufsschüler ebenfalls integriert werden sollen, setzte sich Schwier entschieden ab, weil sie „nicht den breiten politischen Konsens“ in der Bevölkerung fänden. Rüdell, der seine Mutter in einem Konzentrationslager verloren hat, erklärte zu seinem umstrittenen Auschwitz-Vergleich während des DGB -Seminars in Lage, er habe „mit dem Medium der Übertreibung versucht, die Dinge auf den Punkt zu bringen“. Von seinen politischen Forderungen werde er nicht abrücken.
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