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Es gibt nichts zu tun, packen wir's an!

■ Die fehlgeschlagene Gottsuche der Nazis und der heil-lose Antifaschismus der Linken – Ein Gespräch mit Rainer Langhans

taz: Du hast beim letzten taz-Plenum den ersten politisch begründeten Rausschmiß aus diesem Kollektiv erlebt und fühltest dich daran erinnert, wie ihr als „Kommune 1“ damals aus dem SDS rausgeflogen seid, mit denselben Argumenten. Siehst du da einen Zyklus am Werk?

Rainer Langhans: Meine Anstrengungen sind darauf gerichtet, das Richtige, das Wirksame zu erkennen, in dem was passiert. Bei der taz denke ich: Das muß so sein, es muß offenbar sein, daß man über Entlassungen hier etwas lernen will, erreichen will, daß der Druck so groß wird, daß man die Arbeit an dieser überalterten Faschismustheorie endlich mal in Angriff nimmt.

Was ist für dich falsch an der doch so gut gemeinten linken Faschimustheorie?

Unsere Faschismustheorie war schon deswegen falsch, weil sie zwar dazu diente, unsere Väter zu verprellen und uns den Abstand zu liefern zum Neubeginn, der sogenannten „Stunde Null“, aber uns eine Utopie, die wir leben konnten, nicht geben konnte. Bis heute wird noch imnmer so getan, als ob sie das könnte. Für mich war, als ich ausstieg aus der Bewegung, weil ich an der Frauenfrage gescheitert war, das erst mal gar kein Thema – ich war meilenweit entfernt von diesen ganzen Themen, habe mich jahrelang in ganz anderen, in spirituellen, Bereichen bewegt, Geschichte, Soziales usw. interessierte mich überhaupt nicht mehr – 'und trotzdem kamen die Fragen wieder, jetzt in einer neuen Form, denn mir war klar geworden: Spiritualität in Deutschland heißt Hitler. Und erst wenn du da ein Stück weiter bist, kannst du jenseits davon kommen, bis dahin aber mußt du das Erbe übernehmen. Wir haben keine Chance: Wir müssen dieses Erbe von unseren Eltern übernehmen, nicht im Sinne dieses braven, ausgrenzenden Antifaschismus, sondern im Sinne einer Weiterentwicklung dessen, was da von Hitler versucht wurde. Es bleibt uns keine Wahl, wir können uns noch so sehr dagegen sträuben. Hier sind wir Kinder geblieben, die negative Faschismustheorie der 68er reicht nicht aus, wir müssen daraus eine positive entwickeln. Das ist eine sehr gefährliche Sache, und als ich für mich die Gefahr erkannte, habe ich erst mal lange darüber geschwiegen, in den Büchern was angedeutet, vorsichtig, denn in dieser Richtung ist bisher natürlich nichts gelaufen. Und deshalb müssen eben solche Dinge geschehen wie der Sturz von Jenninger oder jetzt die Entlassungen bei der taz. Für mich ist das amüsant, weil ich sehe, was an allen Ecken passiert, wenn man über diese negative Faschismustheorie nicht hinauskommt.

Jenninger mußte gehen, weil er von Hitler und den Nazis als „Faszinosum“ gesprochen hat. Von der ekstatischen Begeisterung, in die dieser Reichskanzler ein ganzes Volk versetzt hat, – alle Deutschen, von ein paar Kommunisten, radikalen Christen und Anarchisten abgesehen, waren überschwenglich euphorisiert von Hitlers Heilsvision – will man heute nichts hören?

Die Linke hat keine Psychologie gehabt, niemals, der materialistische Ansatz hat das immer vernachlässigt. Gegen jegliche „Irrationalität“ ist sie gesperrt, weil sie Angst hat davor und der Materialismus ja gerade versuchen sollte, mit diesem Abgründigen ein für alle mal und „wissenschaftlich“ Schluß zu machen. Insofern ist diese dumme Aufklärung, die gegen den sogenannten „Einbruch des Irrationalen“ Dämme baut, als antifaschistisches Syndrom eigentlich nur lächerlich. Als wirkliche Aufklärung muß sie sich diese Dinge neu vornehmen, gerade angesichts des Nationalsozialismus wäre das für uns die Hausaufgabe. Warum tun wir's nicht? Die Antwort ist einfach: Weil es so gefährlich ist. Natürlich ist es gefährlich, wenn man weiß, daß sich hier ein Staat, ein Volk in einem rauschhaften Amoklauf auf eine Gottsuche gemacht hat, die alles wollte, was nur irgend an Schönem, Lichtem möglich war – und dabei in der tiefsten Hölle landet. Dies ist ein Beispiel, das man sich natürlich hinter die Ohren schreiben muß. Aber bedeutet das ein für allemal ein Beschäftigungsverbot? Ist das für die Jüngeren auf alle Zeit gültig? Können sie diese Erfahrungen von unseren Eltern, die immer noch verbiestert rumstehen und sagen: Wir wissen nicht, was geschah, und wir sind's auch nicht gewesen, wir sind zwar Nazis, aber wir sind nie welche gewesen – können sie aus diesen Erfahrungen etwas lernen? Nein. Und wenn jetzt eine Redakteurin so ein Wort wie „gaskammervoll“ durchläßt, weil ihr, vielleicht gar nicht bewußt, sich irgendwie eine Vision zu zeigen beginnt, dann reagieren die anderen automatisch mit Angst: Das sind gefährliche Sachen, da darf man nicht leichtfertig mit umgehen, also verlassen wir uns aufs Bewährte und gehen überhaupt nicht damit um.

Die Argumente dagegen sind ja durchaus stichhaltig: Es gibt so etwas wie eine neue Rechte, Neonazis sowieso, Auschwitz –Lügner, die Geschichtsglattbügler um den Historiker Nolte usw., da kann man die Angst verstehen.

Für mich geht es um eine Vision, und der Faschismus sperrt bisher jede Vision, denn er hat alle diese Energien für seine Heilssuche in einer Weise verwandt, die die Deutschen heute natürlich hoch alarmiert sein läßt, wenn da was Ähnliches kommt. Daß „Vision“ bei uns ein Schimpfwort ist, hat damit zu tun, daß Hitler bis heute das ganze Feld besetzt – wir leben heil-los. Die ganze Umweltfrage hängt für mich damit zusammen, der ganze Westen ist geprägt von dieser Form der fehlgeschlagenen Gottsuche und damit der Visionslosigkeit, die hintenherum als das Verdrängte – als Umwelt-, Rüstungs-, Dritte-Welt-Problematik – wieder hereinkommt. Und da meine ich, daß Hitler das Gebiet ist, wo wir diese Dinge lernen müssen, und weil wir das nicht lernen wollen, sitzen wir auf immer gefährlichere Weise nach. Das Risiko, eine Vision zu suchen, muß nicht in Hitler weiterhin und in Zukunft zugrunde gehen, allerdings muß man erst mal seine Vision verstehen und dann seine ganzen Fehler sehen, um dann vielleicht irgendwann darüber hinaus zu kommen, es besser zu machen. Wir müssen also sozusagen die besseren Faschisten werden – die man dann als solche nicht mehr bezeichnen kann – statt diesen ängstlichen, ewig-gestrigen Faschismus als einzigen Sachwalter dieser Utopiebedürfnisse den Neonazis zu überlassen. Aber wir benehmen uns wie die Kinder, sind gegen Papi, weil der was Schlimmes gemacht hat, anstatt ihn anzunehmen, seine Fehler nicht zu wiederholen, es besser zu machen, über ihn hinauszugehen – die Neonazis sind trotzige Faschisten, und die Linken sind trotzige Antifaschisten, wie die Kinder und nicht wie Erwachsene. Erwachsen heißt, die eigene Vision zu suchen, eine Aufgabe, der gegenüber wir uns sehr nachlässig zeigen.

Hitler hatte unter anderem die Vision einer „übermenschlichen“ Rasse, kürzlich hat Stoiber von „durchrasster“ Gesellschaft gesprochen – gleichzeitig kommen wir gentechnisch langsam in die Lage, derlei Rasse-Visionen ohne die ungeheure Brutalität der Nazis realisieren zu können, im Laboratorium. Die Linke bekämpft diese Entwicklungen vehement und völlig zu Recht, eine solche Macht in der Hand des Bösen, des Kapitals – und da ist jede Technologie immer zuerst – das ist doch eine grauenhafte Vorstellung.

Ich habe nicht so viel Angst, weil ich mich wesentlich in geistigen Bereichen aufhalte, und dort scheint es diese Niederungen nicht so zu geben. Wenn du weiter oben auf dem Baum sitzt, siehst du von weit her, was kommt, und wenn du unten sitzt, dann siehst du Dinge sehr direkt und mußt dich ängstigen.

Man kann auf Bäume klettern und Ausschau halten und dann alle Wege sehen und wo sie hinführen – aber reicht das, muß man nicht auch die Wege gehen?

Das weiß ich nicht genau, deshalb schlage ich vor: Klettern wir zuerst mal auf einen Baum. Das tut ja keiner. Wenn wir alle ein Stück geklettert sind, können wir uns unterhalten, was nötig ist. Als Beispiel diese rassischen Geschichten, damals betrieb man sie durch Ausrottungs- und Züchtungstechniken, heute mit den feineren Methoden der Gentechnologie. Auch dahinter steckt eine Utopie, und unsere Aufgabe müßte sein, hinter diesen ganzen Schreckensbildern ihren utopischen Gehalt und damit ihre Ersetzbarkeit durch diese Utopie zu erkennen. Wir müssen uns die Mühe machen, uns nirgends schrecken zu lassen, um noch in den fürchterlichsten Verzerrungen das Schöne zu entdecken, das eigentlich intendiert ist. Was will die Gentechnologie? Sie will – auf das Materialistische reduziert, weil man das andere nicht kennt – auf der grobstofflichen Ebene einen „neuen Menschen“ realisieren, so schön wie irgend möglich. Das ist sehr verdienstvoll, nur bleibt die Frage: Warum so? Warum nicht anders? Weil wir nicht auf den Baum klettern. Würden wir es, auf den Baum geklettert, auch noch realisieren wollen? Ich würde sagen, vermutlich nein. Wenn du weiter oben sitzt, siehst du den größeren Zusammenhang und du siehst: ES IST GUT.

Als den Versuch, geistige Utopie auf der materiellen Ebene zu realisieren, kann man ja die ganze Technik sehen. Meine Kinder wünschen sich zur Zeit nichts dringender als ein Walkie-talkie – und so ein Funkgerät ist ja nichts anderes als die Simulation einer Gottesfunktion: Mit seinem Wort quasi überall zu sein. Die Erwachsenen kaufen sich Autos, weil es göttlich ist, mit einer Fußbewegung zu beschleunigen und potentiell überall zu sein, auf offenen TV-Kanälen wollen wir, wie der alte Herr mit dem Bart, rund um die Welt nach dem rechten sehen usw. usw. Und dies alles, obwohl wir sehen, daß unsere industrielle Beschleunigung den Planeten total ruiniert.

Der Mensch will Gott sein. Deswegen reicht die ganze Ökologie nicht, denn sie redet Quatsch. Sie sagt: Seid vernünftig! Aber wer ist vernünftig, wenn er die Chance hat, Gott zu sein. Und wenn sie das nicht versteht, dann ist die Ökologie, wie Rudolf Bahro völlig zu Recht sagt, nur Kosmetik und Beschleuniger des Untergangs.

Du redest von Vision, Bahro beschwört einen Fürsten der ökologischen Wende, der uns den Weg weisen wird – liegt in beiden Ansichten nicht ein grundsätzlicher Fehler, daß sie nämlich Großentwürfe sind, bei Bahro gar noch mit einer Zwangsläufigkeit, einer Logik, versehen. Da gruselt's mir ein bißchen, vor dieser Totalität des Guten.

Ich glaube, daß Bahro seiner kommunistischen Kirche wieder auf den Leim geht, insoweit, als er wieder diese innere Erfahrung in eine äußere Situation projeziert und damit nicht aushält, daß man zwar göttlich denken, aber bitteschön weltlich handeln soll. Der Satz: „Think global, act local“ heißt geistig betrachtet „Think godly, act earthly“. Das heißt, daß du dich der Projektion enthalten sollst, wenn du projezierst, wirst du wieder glauben, hier gäbe es die Möglichkeit, jemanden für dich anzustellen, daß er schön denkt für dich. Gorbatschow ist da natürlich eine große Versuchung. Doch was auf die Russen zukommt, ist nicht die ökologische Wende, sondern erst mal ihr „68“, das sie vor dreißig Jahren rigoros abgesägt haben, weil sie glaubten, die Macht käme weiter aus den Gewehrläufen, und sie haben nicht darauf gesetzt, wie jetzt, daß geistige Umgestaltung die größere Macht ist. Und wenn es dort, wie überall, zu Mord und Totschlag und schlimmen Dingen kommt, bin ich gar nicht traurig darüber oder verzweifelt, weil ich jedesmal, wenn ich mir die Situation genau anschaue, ich sie als welche erkennen kann, die notwendig sind, um die trägen Bewußtseine, die anders nicht lernen können, zum Lernen und Handeln zu zwingen. Ich greife nicht ein. Bin ich deshalb nur noch ein geistiger Spinner? Ich weiß es nicht – ich meine, daß ich damit sehr viel tue, nur eben nicht in dieser projektiven Art des grobstofflichen Handelns. Wir sollten erkennen, daß das Nichttun das wahre Tun ist, daß unser vieles Tun zerstörerisch ist, daß es ein heilendes Tun verfehlt.

Daß Nichthandeln im taoistischen Sinne die einzige Option ist, die unserm selbstmörderischen Handeln entgegengestellt werden kann, meint auch Sloterdijk in seinem jüngsten Buch, in dem er auch gleich das paradoxe Problem benennt: daß man aus der Kritik der Bewegung keine Bewegung machen kann und die Idee des Nichthandelns nicht als Theorie und Handlungsanweisung auftreten kann, ohne sich zu desavouieren.

Es ist keine Sache der Philosophie, es ist keine Sache der Programme, es ist keine Sache der Politik. Ich meine, daß das wahrscheinlich die wichtigste Lehre ist, die wir aus Hitler ziehen können. Aber dafür müssen wir uns dorthin begeben und genau anschauen, was er Großes versucht hat, das mal aufschlüsseln, um darauf zu kommen, wie er es versucht hat, wozu er sich entschieden hat und ob wir diese Entscheidungen in dieser Richtung noch einmal machen würden. Natürlich glaubt das niemand, nicht einmal die Neofaschisten – wo wäre aber dann der andere Weg. Ich meine, daß es der Weg ist, den Hitler nicht gegangen ist: der Weg der Nichtprogramme, der Nichtphilosophie, des Unsagbaren, der Weg des ganz lokalen irdischen Tuns jedes einzelnen. Das Steigen auf den Baum kann beschrieben werden als das Hinabsteigen jedes einzelnen in sich – und dies muß ohne Programme passieren, jedes Programm macht es zur Politik, es ist wichtig, daß sich jeder dort erst mal verliert, aber kein Programm kann gewährleisten, daß er daraus wieder auftaucht oder irgendein vorhersagbares Ergebnis erscheint. Wir werden aussetzen müssen, aussetzen mit diesen ganzen Herausforderungen, aussetzen auch mit der Sorge, man wird seiner Verzweiflung sich ein Stück überlassen müssen. Jeder, wenn er so weit ist. Du kannst es von den Jüngeren weniger verlangen als von den Älteren, von unserer Generation, die jetzt in die zweite Lebenshälfte tritt, kannst du es eher verlangen als von den jungen Leuten, die müssen erst mal eine Weile rumspielen mit den ganzen Maschinchen. Insofern kann ich nur sagen: Es gibt nichts zu tun, packen wir's an. Das klingt sehr unbefriedigend und soll es auch, weil niemand soll sich daran zufriedenstellen können, niemand es als Hinweis nehmen, jeder soll nur wissen, es gibt irgendwo ein Ende unsereres menschlichen Denkens und Verhaltens, und dieses Ende wird er persönlich erleben müssen, keine Partei, keine Politik, keine Philosophie kann es ihm nennen.

Und doch meine ich, daß die Beobachtung einem ermöglicht, zu sehen, daß zunehmend Leute in diesen Dingen Erfahrung haben und ein öffentlicher Diskurs darüber, der noch kaum stattfindet, sich langsam anbahnt. Die 68er Revolte ist, genau betrachtet, eine Verweiblichung der Welt, d.h. die Entsorgung jedes politisch-männlichen, machenden Konzepts der Gestaltung der Welt. Daß Verweiblichung gleich die Frauen sind, das ist auch wieder so eine projektive, grobstoffliche Verwechslung, aus der allerdings heute die Frauenbewegung ihre Kraft zieht.

Dein Buch „Theoria difusa“ ist gerade als Taschenbuch herausgekommen, mir und anderen, die das Buch gelesen haben, scheint es sozusagen auf sehr hohem Ast geschrieben, also hier unten ziemlich abstrakt und wenig verständlich – wie soll darüber ein Diskurs zustandekommen?

In Zukunft möchte ich gerne Talkshows machen, mit Leuten reden und zeigen, daß das kein hoher Ast ist, daß eigentlich alle darauf sitzen, auch wenn sie es nicht merken. Ich hab es schon einige Male probiert, und es klappt ganz gut. Natürlich auch hier das Problem wie beim Schreiben: Es gibt noch keinen Diskurs, es gibt noch keine Worte dafür, das ist sehr ernst zu nehmen. Was ich im Buch versucht habe, ist mit Versatzstücken ein paar Lücken in unsere Wortwelt zu hauen, in denen etwas von dieser Ruhe, dem Schweigen, dem Unsagbaren spürbar wird, und jeden, der es zuläßt, dazu zu verleiten, ungeschützt, im Freien, im Offenen dazustehen. Ich weiß, daß man davon nichts sagen kann. Leute wie Bhagwan zum Beispiel sagen viel zu viel dazu und glauben, sie würden es sagen. Sie sind „zu wahr“, sie wollen wahr sein und können es nicht sein, sie können im besten Fall eine Atmosphäre schaffen, und ich finde, daß sie zuviel von dieser Atmosphäre selber sein wollen. In diesen Gesprächen will ich nicht darüber reden, sondern wesentlich Entsorgungsarbeit leisten, insofern, als etwas von dieser Leere, dieser Offenheit, Platz erhält, jenseits von dem projektiven Lärm des alltäglichen Geschwätzes. Das soll nicht leer und nichtunterhaltsam werden, sondern im Gegenteil: die höchste Unterhaltung, auch im Fernseh –Begriff. Ich hasse nichtunterhaltsame Sachen und insofern auch mein Buch, ich lese es selber nicht.

Warum eine „Diffuse Theorie“, wo doch eigentlich alles klar ist. Wenn wir uns die Erde von oben angucken, sehen wir: Sie läuft gut wie sie läuft. Auch wenn auf dem Zebrastreifen hier gegenüber wöchentlich fünf Leute totgefahren werden und jeden Tag Tausende verhungern: Sie läuft gut. Gegenwart ohne Tränen ist eine Illusion. Ist dann aber die von dir angesprochene Verweiblichung nicht eine falsche Harmonisierung, insofern, als es den leidvollen Konflikt zwischen Männern und Frauen immer geben wird, auch wenn wir uns gesellschaftlich hier bemühen, Gleichberechtigung herzustellen und männliche Überlegenheit abzurüsten. Aber ohne die Polarität männlich/weiblich wäre das ganze Erdenspiel doch die totale Langeweile.

Was die „erdige“ Praxis betrifft, ist meine Aussage eindeutig: Wenn ich heute die Zeichen, die Schriften lese, scheint mir klar, die Frauen wollen Erfahrungen machen mit ihrem Männlichen und die Männer mit ihrem Weiblichen, offensichtlich mehr als bisher, wir müssen da bestimmte tradierte Dinge erneut erfinden in uns, und bei der Frage, wie das technisch gehen soll, sage ich ganz klar: Alle weltliche Macht den Frauen und alle beratende Ohnmacht den Männern. Ich selber lebe das so, es ist quälend und schrecklich genug, aber ich glaube, daß es das Wahrste ist, was ich tun kann. Ein solches Leben ist meiner Ansicht nach Voraussetzung für Politik. Das heißt nicht, daß es für immer so sein wird, daß diese Frauenkörper männliche Machtspiele spielen werden, aber es ist notwendig, um schnellstmöglich diesen Erfahrungsunterschied aufzufüllen, der uns voneinander trennt. Für die Männer heißt das, in diese Ohnmacht einzutreten, d.h. zurückzutreten, das projektive Machen aufzugeben, untätig zu werden, eine Frau zu werden und der Frau alle Macht zu übergeben. Das ist der erste und notwendige Schritt, und jeder Mann muß sich fragen: Wieviel tue ich dafür? Wer setzt z.B. seine ganze Intensität ein, sein Handeln einzustellen und all das, was er weiß, der Frau zur Verfügung zu stellen, damit sie so schnell es geht so potent und mächtig wie möglich wird und diese Männererfahrung nachholen kann? Das sehe ich in der Linken genausowenig wie sonstwo, bei den Grünen wird rotiert, die Alternativen haben eine gewisse Lebenspraxis – das ist alles dürftig genug, aber darin liegen Ansätze von Utopie. Und jeder sollte für sich überprüfen, wie er solch eine Praxis für sich ernsthafter angehen kann. Und vielleicht, wenn er kann, dann irgendwann wieder ins Gespräch darüber treten obwohl es ihm erst mal die Sprache rauben wird. Das ganze Geschwätz bleibt einem im Halse stecken. Dieses Buch zeigt einen Teil dieser Sprachlosigkeit an, es sollte was von der Schwierigkeit, der Verzweiflung deutlich machen. Zum Beispiel dieses Gespräch zwischen Männern und Frauen in der Mitte des Buchs, fast jeder, der das las, sagte: grauenhaft. Und niemand versteht, daß genau das Grauenhafte der Sinn dieses Buchs sein kann, daß dies der Entsorgung dient und nicht dem positiven neuen Projekt, das Bücher ja meistens verkünden sollen, sondern eher dem Ende der Projekte, das ich nicht verkünde, sondern versuche erfahrbar zu machen. Bücher, Klugheiten, Weisheiten sollen immer Plussummenspiele sein – ein Buch, das die Spiele aufhebt, das die Nullsumme als Gott vertritt, ist schwer zu ertragen.

Weil es paradox ist. Um es mal digitalisiert auszudrücken: Die Null braucht die Eins und umgekehrt. Ohne Null funktioniert kein Computer und auch kein Mensch. Als Ankömmling auf der Erde wird der Mensch in ein kaltes, grausames Nichts, die totale Null, geworfen, und alle seine Anstrengungen sind darauf gerichtet, eine Eins zu werden, Identität zu bekommen. Aus dieser Anstrengung gegen die Null resultiert die ganze industrielle Raserei. Können Nullsummenspiele diesem Prozeß gegensteuern?

Schwierig ist die Antwort im einzelnen, allgemein ist es einfach: Nichts wegnehmen, keine Projekte der Askese, des Verzichts – die Menschen wollen Gott sein, na dann sollen sie. Wieso sind die Mittel so unzulänglich, können wir eigentlich mit den grobstofflichen Mitteln dieses gewachsene Bedürfnis nach Göttlichkeit zufriedenstellen? Nein, wir sehen, daß es zunehmend auf Kosten anderer geht, auf Kosten des bißchen Lufts, das wir hier japsen, des bißchen Erde. Weitere Mobilisierungen und Projekte können nur dort stattfinden, wo es Fülle gibt und Raum und keine Begrenzungen – der Innenbereich. Und da würde ich sagen: Versprich ihnen das Blaue vom Himmel und jag sie da hin.

Die Philosophen, Weisen und Mystiker variieren seit Jahrtausenden die zentrale Botschaft: Was innen ist, ist außen – jeder innere Vorgang eine äußere Entsprechung.

Wir haben nur noch die äußeren Entsprechungen und wissen nicht mehr um die inneren Vorgänge. Die Arbeit, die dort ansteht, habe ich Schattenarbeit genannt, obwohl es sich eigentlich nicht um Schatten handelt, aber es erscheint uns als Schattenarbeit, was wir von diesen Entsprechungen innen aufsuchen müßten, um überhaupt das Ganze des Seins wahrzunehmen und so auch im Grobstofflichen zur richtigen Bewegung zu kommen. Einer der wichtigsten Punkte in diesem Projekt Abendland mit seinem „Höhepunkt“ Faschismus ist die Frage des Todes. Die Faszination, die ungeheure Vollständigkeit des Lebens in diesem faschistischen Staat bestand ja darin, daß erstmals auch der Tod mit hineingenommen wurde in das Lebenskonzept des Nationalsozialismus: der Krieg, die maschinelle Vernichtung der „Untermenschen“, diese ganzen fürchterlichen Schatten, die wir immer nur als das Verdrängte gehandhabt haben, als das Böse, das gegen das flecklose Gute keine Position hatte. Die Einbeziehung des Todes ist die ungeheure Lehre, die Hitler uns hinterlassen hat, und wir wagen noch nicht, sie genauer anzuschauen. Deshalb habe ich in dem Buch versucht, die Gelassenheit, die ich ein bißchen zu haben glaube, zu überprüfen an unseren schrecklichsten Projekten, an Massenmord, Krieg und Folter, – mit der Frage: Kannst du daran bestehen, sind das Visionen, Utopien? Nach dem Motto: Sage mir das Schrecklichste, was dir einfällt, und ich sage dir, wer du bist, die Utopie, die dahintersteckt. Das ist ein großes Problem, weil die Todesfrage eine ist, die im ganzen abendländischen Projekt nicht besteht, unser ganzes Rennen ist ein Davonlaufen vor dem Tode, und hier Erfahrungsmöglichkeiten zu schaffen, ist nicht einfach. Um diese Frage aber werden wir nicht herumkommen, wir haben die ganze Zeit über positive Projekte gesprochen – irgendwie „Schöner leben“ –, aber wir haben nicht davon gesprochen, daß es auch den Ausstieg aus dem Körper gibt und daß wir das studieren müssen. Denn das ist die letzte Frage und die letzte unbewältigte – und damit Angst, Projekte, Projektile machende – Angelegenheit. Da ist das Problem, daß dieses Feld von den Religionen besetzt ist, von unserer eigenen nicht einmal besonders gut. Und da wieder zu einer Wissenschaft zu gelangen – weg von den Religionen, den Glaubens-, und Irrationalismusbekenntnissen – wäre eine wichtige Sache – hin zu dem, was Wissen einmal war, nämlich nicht bloß technologisches, intellektualisiertes, funktionalisiertes, sondern wirkliche Wissenschaft, Aufklärung in einem so erhabenen Sinne, wie wir ihn uns unter diesem heute so heruntergekommenen Begriff gar nicht vorstellen können. Diese Wissenschaft ist zunächst unprogrammierbar, das macht aber nichts, wir müssen uns erst mal entsorgen von den alten Wissenschaften, d.h. wir müssen sie alle zu Schanden reiten, was ja gerade auch passiert. Dies müssen wir erkennen als das Behältnis einer neuen Utopie, einer Wissenschaft, die im Laboratorium des je eigenen Körpers beginnen muß. Das Gespräch führte

Mathias Bröcker

Rainer Langhans:

Gedichte von der wahren Liebe, Edition Phoenix, Bauer-Verlag 1989

Theoria difusa, Taschenbuchausgabe, Verlag Raymond Martin, 1989

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