Neues Selbstvertrauen

Zum Stopp der Urabstimmung bei den Grünen  ■ K O M M E N T A R E

Auch wenn es keiner von denen, die einst die Urabstimmung in Gang brachten, offen zugeben wird, so richtig aufregen mag sich niemand über den Spruch des Schiedsgerichts. Zu sehr drohte die am kommenden Wochenende ablaufende Eingabefrist für die Manifeste als Grundlage einer Urabstimmung vor allem eine innerparteiliche Demonstration des Desinteresses an der Prozedur zu werden, als daß es nicht auch Erleichterung beim „Grünen Aufbruch“ gäbe. Das Parteigericht avancierte in dieser Situation lediglich zum willkommenen Notnagel, um das kostenintensive und in seinem Ergebnis zweifelhafte Unternehmen erst einmal zu stoppen.

Das Desinteresse ist nicht der Aufbruch-Gruppe anzulasten es ist vielmehr ein Beleg, daß sich die Situation der Grünen seit Jahresbeginn deutlich gewandelt hat. Aus einem zutiefst zerrissenen Haufen, der sich im Grabenkampf teilweise haßerfüllt demontierte, ist wieder eine handlungsfähigere Partei geworden. Zur Entspannung hat sicherlich der Sturz des an der selbstzerstörerischen Polarisierung beteiligten Vorstands beigetragen; zu einem gut Teil ist es aber dem unverhofften Aufschwung bei den Wahlen und der Regierungsbeteiligungen in Berlin und Frankfurt geschuldet. Das hat neues Selbstvertrauen gebracht und - gerade in der Diskussion über das rot-grüne Bündnis in Berlin - offenbart, daß die Differenzen zwischen den innerparteilichen Zirkeln kleiner und das realpolitische Potential größer ist als vorher gegenseitig geglaubt.

Ob es noch zur Urabstimmung kommt oder nicht, bleibt dem Schiedsgericht überlassen: Es wäre bei einer endgültigen Absage für die Partei allerdings fatal, nun auch keinen Diskussionsbedarf mehr für eine programmatische Erneuerung zu sehen. Die Urabstimmung war immer nur die schlechtere Lösung. Dahinter steckte der verzweifelte und zweifelhafte Versuch, die im Blockdenken eingefrorene Debatte wieder in Gang zu bekommen - eine lebendige Auseinandersetzung ist dem allemal vorzuziehen. Die Herausforderungen durch die nahende Bundestagswahl, durch die Veränderung des Parteienspektrums, durch massive Rechtstendenzen sowie den Erfahrungen einer Regierungsmitwirkung sind auch nicht durch Kreuzchen unter einem Manifest, sondern nur durch fruchtbaren Streit zu bewältigen. Gesund ist die Partei noch lange nicht, derzeit staunt der Patient bloß, wie gut es ihm schon wieder geht, ohne zu wissen, warum. Den noch wackligen Rekonvaleszenten aufzupäppeln, sind alle Strömungen aufgefordert - auch die jetzt schmollend abseitsstehenden Linken.

Gerd Nowakowski