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Film: La Lectrice

■ Unsagbar weiblich: Die Literatur

Eine schöne Stimme sucht ihre Berufung (Raymond Jean, La Lectrice).

Sie gehört zu den Frauen, die über sogenannte natürliche Reize verfügen, sie kennen und für ihre Zwecke einzusetzen wissen: Während Constance (Miou-Miou) ihrem Liebsten aus Raymond Jeans Roman „La Lectrice“ (Die Vorleserin) vorliest, und ihr Freund ihre Vorlesestimme lobt, kommt ihr die Idee, die Fiktion für die Wirklichkeit zu halten und in die Rolle der Marie in Jeans Roman zu schlüpfen. Während sie noch liest, Seite für Seite umblättert und ihren Freund damit vom Einschlafen abhält, ist sie fortan selbst die Lectrice, die anderen Zeitgenossen vorliest, und sich dafür bezahlen läßt.

Wer eine Anzeige mit dem Wortlaut „Junge Frau liest alles: Dokumente, Poesie, Romane“ aufgibt, muß sich nicht wundern, wenn die Kunden das alles in ihrem Sinne interpretieren: So muß Constance/Marie bald die Erfahrung machen, daß sie die einzige ist, die sich für Literatur interessiert. Denn Eric, ein pubertierender Querschnittsgelähmter, will nicht hören, was Guy de Maupassant über das Haar zu sagen hat. Seine Blicke gleiten über das Stück Haut, das Maries Strumpfansatz freigibt, und wird, von einem hysterischen Anfall geschüttelt, ins Krankenhaus eingeliefert. Wieso, weshalb, warum? Marie weiß es angeblich nicht.

Die halberblindete und von Karl Marx träumende Generalswitwe will lieber Lenins Todestag mit Marie und roten Nelken feiern, als immer wieder Tolstois „Krieg und Frieden“ zu hören; das kleine, häufig alleingelassene Mädchen will definitiv nichts vorgelesen bekommen, sondern lieber auf dem Jahrmarkt spielen; der angegraute Richter will seine perversen Gelüste ausleben, und fordert Constance/Marie auf, aus „Die Hundertzwanzig Tage von Sodom“ von Marquis de Sade zu lesen (was sie auch, ohne mit der Wimper zu zucken, tut); der ausgepowerte und zeitweilig impotente Direktor tut alles, um Marie von der Lektüre abzuhalten und sie in sein Bett zu locken: Und da liegen sie dann, Marie auf ihm, während sie (bald in höchster Verzückung) aus Marguerite Duras‘ „Der Liebhaber“ liest.

Ein lustiges Spiel mit Täuschungen, ein Spiel mit Literatur und ihrer VerFILMmung: Scheinbar. Denn die Vorleserin läßt nach der ersten halben Stunde keinen Platz mehr für Zufälle, für Überraschungen, für witzige Pointen. Der französische Regisseur Michel Deville („Gefahr im Verzug“), dem man einen Hang zur Perfektion nachsagt, drehte 1. ausschließlich im Studio, 2. dachte sich für jede Person ein sofort erkennbares Universum aus (blau wie der Traum für Marie, grün wie ein verbotener Garten für Eric, sandfarben wie der Yuppie für den Direktor, rote Fahnen für die Generalin), 3. strapazierte jeden Witz bis zum Nimmerhinguckenwollen.

Und, was viel schlimmer ist, er staffierte die „Vorleserin“ mit soviel weiblicher Korrumpierbarkeit aus, daß sich der Verdacht einschleicht, die „Literatur“ sei nur ein Vorwand, um wieder einmal, diesmal auf den zweiten Blick, die Reize einer Frau zu zeigen: einer jungen, blonden, hübschen, eigenwilligen, kleinen, naiven, von keiner Einsicht gebeutelten Frau, die auch, aber nur unter anderem, (vor -)lesen kann.

Anyway. Wahrscheinlich läuft sie immer noch durch die menschenleeren Straßen einer französischen Provinzstadt und sucht ihre eigentliche Berufung.

gin

Schauburg, 21 Uhr

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