Der Druckabfall im Westen

■ "Anstatt das dumme Gerede von der mittelalterlichen Barbarei des Ayatollah herunterzuleiern, sollten wir uns besser fragen, worin seine symbolische Macht besteht"

Jean Baudrillard

Mit dem Fall Rushdie scheint Khomeini eine neue Ära in der Geschichte der Geiselnahme eingeleitet zu haben. Bekanntlich ist das Lästigste die Unterbringung und Verpflegung der Geiseln. Khomeini hat es geschafft, daß Überwachung und Festhalten der Geiseln zu Lasten der westlichen Mächte geht. Durch Rushdie gelang es ihm, daß der ganze Westen sich selbst zur Geisel wurde. Diese spektakuläre Perfektionierung der Geiselnahme macht aus ihr eine weltweite Strategie, die fähig ist, alle Machtkonstellationen durch den puren Akt des Wortes umzuwerfen.

Anstatt das ganze dumme Gerede von der mittelalterlichen Barbarei des Ayatollah herunterzuleiern und darauf zu warten, daß alles auf wundersame Weise nach seinem Tod verschwindet, sollte man besser danach fragen, worin die symbolische Macht, die symbolische und dämonische Effizienz einer derartigen Geste besteht.

Nach einem kräfteverzehrenden Krieg und mit einem im Ganzen negativ einzuschätzenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnis verfügt der Ayatollah über eine einzigartige niederträchtige und immaterielle Waffe: das Prinzip des Bösen. Eine Haltung radikaler Ablehnung der westlichen Werte des Fortschritts, der Radikalität, der politischen Moral, der Demokratie usw. Gestern noch kam der universelle Konsens über all diese Vorzüge darin überein, ihm die ganze Energie des Bösen, die ganze satanische Energie des Verfluchten, den Funken des verfemten Teils zu übertragen. Doch heute geht das Wort von ihm aus, denn allein er übernimmt gegen alle die manichäische Haltung des Prinzips des Bösen, allein er besitzt die Entscheidungsgewalt über das, was böse ist, allein er entscheidet, mittels des Terrors, das Böse zu verkörpern.

Unverständlich kommt uns derjenige vor, der das Prinzip des Bösen bestimmt, und es hilft auch nichts, die internen Spannungen des Islam erklärend heranzuziehen. Was wir nichtsdestotrotz konstatieren können, ist seine daraus resultierende Überlegenheit gegenüber einem Westen, wo die Möglichkeit abhanden gekommen ist, das Böse identifizieren zu können, wo sich die geringste Kritik, die geringste Verweigerung durch den virtuellen Konsens in bezug auf die ganzen Werte von Verhandlung und Versöhnung ausgelöscht finden. Selbst unsere politischen Mächte sind nichts weiteres als der Schatten ihrer Funktion, die, neben anderen, darin besteht, den anderen, den Feind, die Bedrohung und das Böse aufzuzeigen. Macht gibt es nur, insofern sie zugleich symbolische Macht ist. Heute ist sie nur noch der Verlust dieser Macht, und dementsprechend gibt es keine Opposition mehr, die willens oder in der Lage ist, die Macht als das Böse hinzustellen. Angesichts der satanischen, ironischen, polemischen und antagonistischen Energie sind wir sehr schwach geworden; wir haben uns in Gesellschaften verwandelt, die auf fanatische Weise nachgiebig und auf nachgiebige Weise fanatisch sind.

Weil wir vermehrt den verfemten Teil in uns aufspüren und nicht davon ablassen, nur die positiven Werte erstrahlen zu lassen, haben wir uns wiederum auf dramatische Weise anfällig gegenüber dem harmlosesten Virusangriff, wie dem des Ayatollah, gemacht, der gewiß von keiner Immunschwäche befallen ist. In unserer Oppositionshaltung fällt uns nichts anderes ein als unser Vertrauen auf die Menschenrechte: erbärmlicher Rückgriff, der in jedem Fall Bestandteil der Immunschwäche der Politik ist. Und schließlich bringen wir es im Namen der Menschenrechte fertig, den Ayatollah persönlich als das „absolut Böse“ (Mitterrand) zu behandeln, womit wir uns, in vollkommenem Widerspruch zu den Regeln eines geistreichen Diskurses, mit seiner irrationalen Verdammung identifizieren. (Nennen wir etwa heute einen Verrückten einen Verrückten?) Nicht einmal einen Behinderten behandelt man wie einen Behinderten, derart groß ist die Angst, die wir vor dem Bösen haben. So füllen wir den Mund mit Euphemismen, um zu vermeiden, den anderen in seiner irreduziblen Existenz zu benennen.

Wundern wir uns nicht, daß jemand, der auf direkte und triumphierende Weise die Sprache des Bösen spricht, trotz der in der ganzen Welt erfolgten Beschwörungen der Intellektuellen, einen ähnlichen Schwächeanfall in den westlichen Kulturen auslöst. Jegliche Gleichheit, jegliche Rechtmäßigkeit, das erhabene menschliche Gewissen, ja selbst die Vernunft bleibt vor dieser Verdammung auf der Strecke. Noch mehr: Fasziniert von ihr, gerät sie in ihren Bann und wandelt sich, zusammen mit der Gesamtheit der Kommunikationsmedien, in ihren Komplizen. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als sämtliche Mittel der Stigmatisierung und Dämonisierung zu mobilisieren, doch zur gleichen Zeit verfällt sie der gleichen Sprache und gerät in die Falle des in seinem Wesen ansteckenden Prinzips des Bösen. Wer hat den Sieg davongetragen? Natürlich der Ayatollah. Auf symbolischer Ebene ist es unbezweifelt, daß wir mit aller Macht darin fortfahren, ihn zu vernichten; doch auf symbolischer Ebene hat er gewonnen, da die symbolische Macht derjenigen der Waffen und des Geldes stets überlegen ist. Unser klassischer Idealismus hat uns dies vor Augen gehalten. Auf bestimmte Weise handelt es sich um die Revanche der anderen Welt. Die Dritte Welt ist niemals zu einer tatsächlichen Herausforderung des Westens gelangt. Währenddessen die UdSSR, die einige Jahrzehnte lang für den Westen das Prinzip des Bösen verkörperte, sich offenkundig und unaufrichtig auf die Seite des Guten geschlagen hat, indem sie sich einer mehr als moderaten Haltung gegenüber den weltweiten Problemen rühmt. Welch erstaunliche Ironie: Die UdSSR beabsichtigt sogar, als Vermittler zwischen dem Westen und dem Satan aus Teheran aufzutreten. In der Tat zeichnet ihre Erfahrung, wie die gerade angesprochene, sie aus - nachdem sie zehn Jahre lang, ohne daß wir wirklich Notiz davon nehmen, die westlichen Werte in Afghanistan verteidigt hatte. Zumindest einige Kommentatoren erkannten mit Verbitterung, daß Khomeinis Strafe, durch den ausgesprochenen Bannspruch noch verstärkt, dem Buch einen unfaßbaren Wert verlieh, der ihm ursprünglich fehlte. Dies führt dazu, die Hilflosigkeit anzuerkennen, der bei uns das Politische ausgeliefert ist.

Die faszinierende Wirkung - die Wirkung der weltweiten Akzeptanz und Ablehnung -, ausgelöst durch das gegen Rushdie ergangene Todesurteil, läßt sich sehr gut vergleichen mit dem Phänomen des abrupten Druckabfalls im Flugzeug, wenn ein Bruch oder Riß im Rumpf entsteht (selbst wenn es sich um einen Unfall handelt, erscheint er als ein terroristischer Anschlag). Aufgrund des Druckgefälles zwischen innerem und äußerem Raum wird alles gewaltsam nach draußen, ins Leere gezogen. Es genügt ein Riß oder ein Loch in der hauchdünnen Membran, die uns von den beiden Welten trennt. Der Terrorismus, die Geiselnahme, ist diejenige Handlung „par excellence“, welche einen derartigen Riß in unserem künstlischen und künstlich beschützten Universum verursacht. Die Gesamtheit des gegenwärtigen Islams, der keineswegs mit dem des Mittelalters identisch ist und den man notwendigerweise strategisch und nicht moralisch oder religiös beurteilen muß, liefert das westliche System (die östlichen Staaten eingeschlossen) dieser Leere aus, während er mittels einer einzigen Handlung oder eines einzigen Wortes von Zeit zu Zeit Risse in diesem System verursacht, durch die unsere Werte ins Leere stürzen. Der Islam übt keinerlei revolutionären Druck auf die westliche Hemisphäre aus, er setzt sich nicht der Gefahr aus, sie bekehren oder erobern zu wollen; er begnügt sich damit, sie im Namen des Prinzips des Bösen, dem wir nichts entgegenzuhalten haben, mit Hilfe der Virusattacke zu destabilisieren: d.h. auf der Grundlage eben dieser möglichen Katastrophe, die im Druckgefälle zwischen den beiden Räumen ihre Ursache hat und mit der ständigen Gefahr eines abrupten Druckabfalls (eines Abfalls der Werte) der von uns eingeatmeten Luft innerhalb unseres beschützten Universums verbunden ist. Gewiß ist, daß bislang nicht gerade wenig Sauerstoff durch die Risse und Ritzen unserer westlichen Welt entwich. Wir geben uns damit zufrieden, unsere Sauerstoffmasken bereitzuhalten.

Unser System ist es, das sich in die Dienste des Ayatollah stürzt. Er selbst begnügt sich damit, den kleinen Finger zu rühren, schon wird unsere beunruhigte Faszination durch das Prinzip des Bösen angezogen. Es überrascht kaum, daß seine Strategie, entgegen allen naheliegenden Einwänden, auf erstaunliche Weise modern ist. Jedenfalls moderner als die unsrige, wenn wir bedenken, daß ihre Wirkungsweise darin besteht, mit Bedacht archaische Elemente in einen modernen Kontext einzuschleusen: eine „Fatwa“, ein Todesurteil, eine Verdammung. Die auslösende Handlung spielt keine Rolle. Wäre unsere westliche Hemisphäre unverwundbar, würde sie keinen Sinn ergeben. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Unser ganzes westliches System stürzt sich ins Leere und dient als Resonanzbehälter, als Supraleiter für den Virus. Wie läßt sich dies verstehen? Gleichwohl handelt es sich in diesem Fall um die Revanche der anderen Welt: Wir identifizieren bereits den Rest der Welt mit einer ansehnlichen Menge von Erregern, Krankheiten, Epidemien und Ideologien, gegen die sie wehrlos war. Durch eine ironische Wendung der Dinge hat es nun den Anschein, als ob wir heute diejenigen seien, die wehrlos einer infamen, aber kleinen archaischen Mikrobe entgegenstünden.

Selbst die Geisel wird zur Mikrobe. In seinem letzten Buch Le metier d'hotage (Das Geschäft der Geisel) zeigt Alain Bosquet, wie der ins Leere entführte Teil der westlichen Welt weder ins eigene Haus zurückkehren kann noch will, weil sie sich vor ihren eigenen Augen gedemütigt fühlt, aber vor allem, weil alle in diesem Teil der Welt, nämlich das Land und die Mitbürger gemeinsam durch die erzwungene Passivität, durch ihre gemeinsame Feigheit und durch die an sich degradierende und im wesentlichen unnütze Verhandlung gedemütigt werden. Von der Verhandlung abgesehen, ist jede Geiselnahme ein Beweis für die unweigerliche Feigheit der Gesamtheit der Gemeinschaften gegenüber dem Niederträchtigsten ihrer Mitglieder. Andererseits korrespondiert die Gleichgültigkeit der Gemeinschaft gegenüber ihren Mitgliedern mit der Gleichgültigkeit des Individuums gegenüber der Gemeinschaft. Auf diese Weise zeigt sich die festgefahrene Situation im Westen und zur gleichen Zeit enthüllt die Geiselstrategie unbarmherzig die Ausweglosigkeit dieser Politik. Mit der Destabilisierung eines einzigen Individuums gelingt die Destabilisierung eines gesamten Systems. Aus diesem Grund kann die Geisel nicht einmal den Seinen verzeihen, daß man sie mittlerweile zum Helden emporstilisiert hat; zum Helden, den man nun zu verbergen sich bemüht.

Wir befinden uns weder im Kopf des Ayatollah noch im Herzen der Mohammedaner, und es kann auch nicht darum gehen, ihre Empfindungen und ihren Glauben anzunehmen. Uns von dem schwachen und dogmatischen Denken freizumachen, das darin besteht, alles und jedes dem religiösen Fanatismus in die Schuhe zu schieben, ist das einzige, was uns zu tun übrigbleibt. Wenn wir erkennen wollen, worum es in diesem Spiel geht, müssen wir zumindest einen Funken strategischer Intelligenz aufbringen. Im Hinblick darauf ist das heillose Durcheinander wohlwollender und pathetischer Reaktionen, die man lesen konnte, null und nichtig: es entstammt dem simplen Exorzismus.

Ich befürchte, wir sind schlecht gerüstet für die Herausforderung, vor die uns die symbolische Gewalt des Islam in diesem Moment stellt, in dem wir die Erinnerung an den Schrecken der Französischen Revolution zugunsten einer Jubiläumsfeier, die als allgemeiner Konsens die Erscheinung einer aufgeblähten Struktur annimmt, auszulöschen versuchen. Was bleibt uns zu tun vor einer neuen Gewalt, wenn wir alles daran setzen, die Gewalt unserer eigenen Geschichte auszulöschen?

(aus: 'El Pais‘, 30.3.1989, Übersetzung: Klaus Englert)