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Seestreit zwischen Bruderstaaten

Seit die DDR ihre Grenze auf zwölf Seemeilen ausgedehnt hat, müssen polnische Schiffe durch fremdes Hoheitsgebiet in ihren Hafen fahren / Zusammenstöße mit Patrouillenbooten sind häufig / Die Stettiner befürchten, daß sie vom einbringlichen Transitverkehr Skandinavien-Italien abgeschnitten werden sollen  ■  Aus Stettin Klaus Bachmann

„Da muß man doch auf den Tisch hauen“, ereifert sich Profesor Tomaszewski, Vorsitzender des Stettiner Meeresforums und Dozent an der Stettiner Universität, wenn er darauf zu sprechen kommt, was sich nördlich von Stettin, im Hafen von Swinoujscie abspielt. Seit die DDR dort 1985 ihre Grenze auf zwölf Seemeilen ausgedehnt hat, ist es in der Bucht vor Swinoujscie mit den gutnachbarlichen Beziehungen vorbei. Seither liegen Fahrrinne, Hafenzufahrt und Ankerplätze im Hoheitsgebiet der DDR. „Gerade so“, sagen die Stettiner, „als hätte die DDR ein Stück Polen annektiert.“

DDR-Geschütze

auf polnische Boote

Für die Stettiner ist das um so schmerzlicher, als die DDR die Schiffer von Swinoujscie spüren läßt, wer nach ihrer Ansicht auf dem Meer das Sagen hat. Kapitän Henryk Bednarek, zugleich stellvertretender Vorsitzender des Stettiner Jachtvereins, kann ein Lied davon singen: Als er im Mai 1985 in die Hafeneinfahrt einlief, wurde seine Jacht regelrecht gekapert: „Ein Patrouillenboot legte an, und ein Offizier plus vier Soldaten mit schußbereiten Maschinenpistolen in den Händen sprangen an Deck. Wir sollten sofort die Hoheitsgewässer der DDR verlassen.“ Bednarek funkte auf dem Notrufkanal „SOS“, was dem Patrouillenboot nicht entging. Es trat den Rückzug an.

Ein SOS scheint auch nach Erfahrungen anderer Stettiner Schiffer die beste Art zu sein, in Ruhe gelassen zu werden, doch, so Henryk T., Eigentümer einer kleinen Jacht, „nicht jedes Boot hat Funk“. Und gerade auf die kleinen Privatboote haben es die Organe der DDR abgesehen. Wie Henryk T. möchte auch Andrzej K. lieber anonym bleiben, denn: „Die haben meinen Namen und meine Nummer.“ Zumal Andrzej K. als berufsmäßiger Grenzverletzer (er ist Kapitän eines Auflugsbootes) bereits einen Drohbrief vom DDR -Außenministerium bekommen hat: Beim nächsten Mal werde man ihn einsperren.

Der kleine Grenzkrieg bei Swinoujscie hat indessen auch seine heiter-makabren Seiten. Ein polnischer Weltenbummler, der vor der Grenzänderung 1984 ausgelaufen war und nichtsahnend die Zwölfmeilenzone der DDR durchfuhr, sah seinen Weg plötzlich durch DDR-Patrouillen versperrt. Erstaunt funkte er die Stettiner Hafenbehörde an: „Trifft es zu, daß sich Polen und die DDR im Kriegszustand befinden?“

Auch wenn ab und zu dänische Boote belästigt werden, für die Stettiner ist klar, daß es die DDR auf Polen abgesehen hat. Es genüge, so erzählt ein Schiffer, beim Herannahen eines DDR-Bootes über Funk auf russisch zu fragen, was los sei, und man werde in Ruhe gelassen. Was besonders die Stettiner auf die Palme bringt: DDR-Boote werden problemlos in polnischen Gewässern geduldet, polnische Segler dagegen manchmal sogar dann aus DDR-Häfen ausgewiesen, wenn sie eine offizielle Einladung haben.

Zwei Gründe seien es, meint Andrzej K., die die DDR veranlaßt hätten, dermaßen rüde Flagge zu zeigen. Gelegentlich sei es DDR-Seglern gelungen, in polnische Gewässer zu flüchten, und die polnischen Grenzorgane hätten sich geweigert, sie auszuliefern, worauf die DDR-Segler seelenruhig zuerst in internationale Gewässer und anschließend in den Westen geflohen seien. Und zum anderen setze die DDR eben ihren Anspruch auf die Zwölfmeilenzone durch. Das ist teilweise auch Verschulden der polnischen Regierung. Die dehnte ihre Grenze als erste auf zwölf Meilen aus, vergaß aber, mit der DDR eine Vereinbarung über die Stettiner Bucht zu treffen. Keiner der bis dahin zwischen Polen und der DDR geschlossenen Verträge sah eine verbindliche Regelung für die Seegrenze vor.

Redakteur Babinski von der Stettiner Parteitageszeitung 'glos szczecinski‘: „Selbst der Vertrag von Zgorzelec, in dem die DDR die Oder-Neiße-Grenze anerkannte, erstreckt sich nur auf die Landesgrenze. Das Potsdamer Abkommen spricht allerdings davon, daß die Grenze westlich von Swinoujscie verläuft und daß Stettin und Swinoujscie plus Hafen an Polen fallen. Nach internationalem Seerecht gehören zu Häfen auch die Fahrrinne und die Ankerplätze, und nach Völkerrecht kann eine Ausdehnung der Seegrenze nur in beiderseitigem Einverständnis erfolgen.“

Zaghafte

Proteste aus Warschau

Außer gegen dieses Vorgehen 1985 zu protestieren, hat Polen wenig getan. Seit über vier Jahren wird hinter veschlossenen Türen verhandelt. Anderswo, meint Prof.Tomaszewski, sei die DDR großzügiger gewesen in der Auslegung. Bei Travemünde endet die Zwölfmeilenzone der DDR zum Beispiel schon nach 3,3 Seemeilen. Dann beginnt die Fahrrinne der aus Travemünde auslaufenden Schiffe. Wie hier, so hat es die DDR auch im Falle Dänemarks peinlich vermieden, durch überzogene Ansprüche internationale Komplikationen hervorzurufen. In der Stettiner Bucht, so erzählen Schiffer, stehen sich hingegen gelegentlich polnische und deutsche Patrouillenboote mit aufeinander gerichteten Geschützen gegenüber.

Der 'Kurier Szczecinski‘ (Stettiner Kurier) hat nun die Verhandlungsführung der polnischen Regierung in einem ganzseitigen Bericht heftig kritisiert. Die Beunruhigung in der Stadt rühre vor allem von Gerüchten her, daß die von der polnischen Seite kommenden Vorschläge bei den Verhandlungen keine volle Anerkennung der polnischen Interessen in der Bucht garantieren könnten. Das Vorgehen der DDR bezeichnet das Blatt als „Verletzung unserer ökonomischen und historischen Rechte“ und „einseitige Verletzung des Völkerrechts“. Der Artikel findet in Stettin besonders deshalb große Beachtung, weil sich die Zensur bisher stets bemüht hatte, das Thema aus den Zeitungen herauszuhalten. Diese Öffnung findet statt vor dem Hintergrund einer Ankündigung von Regierungssprecher Jerzy Urban, die Verhandlungen gingen ihrem Ende zu. „Es wäre allerdings noch zu früh zu sagen, sie werden erfolgreich zu Ende gehen oder nicht“, erklärte Urban. Seit dem Treffen zwischen General Jaruzelski und Staats- und Parteichef Erich Honecker im Juni letzten Jahres in Wroclaw habe es in der Bucht keine Grenzzwischenfälle mehr gegeben.

Politik in

preußischer Tradition

Vierzig Jahre nach Festlegung der Oder-Neiße-Grenze, nachdem die DDR diese an erkannt hatte und dauernd erklärt, die Grenzen in Europa seien unantastbar, stellt sich nun heraus, daß die Grenze offenbar doch nicht unantastbar sei. Erschreckt stellen die Stettiner fest, daß alle Freundschaftsbekundungem im Rahmen des Warschauer Pakts, daß die Tatsache, daß die DDR und Polen dem gleichen Militärbündnis und Gesellschaftssystem angehören, Polen nicht davor bewahrt haben, ein Wiederaufleben dessen beobachten zu müssen, was Wojciechowski „die preußisch -brandenburgische Tradition in der deutschen Polenpolitik“ nennt.

Der parteilose katholische Abgeordnete Ryszard Bender im polnischen Sejm: „Da freuen sich die Revisionisten, die jetzt sagen können, das ist ja im gesamtdeutschen Interesse geschehen.“ Für die Leute vom Meeresforum, einer interdisziplinären, unabhängigen, aber offiziell zugelassenen Lobbyistengruppe zur Entwicklung der Küstenregion steckt hinter der Taktik der DDR mehr. Wojciechowski, Sekretär des Forums: „Hinter den Zwischenfällen steckt Methode. Wenn es der DDR gelingt, Stettin vom Transitverkehr Skandinavien-Italien abzuschneiden, dann laufen jene 80 Prozent des Transitverkehrs, die heute über Stettin laufen, in Zukunft über Rostock.“

Stanislaw Miskiewicz, Sejm-Abgeordneter der PVAP und erster Wojewodschaftssekretär in Stettin, erklärte im Sejm: „Es gibt keinen Grund, nicht öffentlich darüber zu reden, was die DDR 1985 getan hat und worüber die ganze Welt Bescheid weiß.“ Und Jerzy Golinski, Abgeordneter der katholischen Pax -Gruppe: „Polens Staatsraison erfordert ein entschiedenes Vorgehen, denn das ist nicht nur eine Angelegenheit Stettins, sondern ganz Polens.“ Daß die Diskussion nun im Sejm stattfindet, liegt auch daran, daß die Stettiner nach Premier Rakowskis letztem DDR-Besuch eine Beschleunigung der Verhandlungen beobachten. Prof.Tomaszewski befürchtet, daß sich Polens Regierung auf einen faulen Kompromiß einlassen will.

Zweite

Fahrrinne im Gespräch

Am 6.März hat die polnische Presseagentur 'pap‘ für Aufruhr gesorgt. Sie verbreitete, die Stettiner Hafenbehörde treffe Vorbereitung für die Aushebung einer zweiten Schiffahrtsrinne außerhalb der Zwölfmeilenzone der DDR. Prof. Tomaszewski: „Ein völlig abwegiges Projekt.“ Wie in Stettin hinter vorgehaltener Hand zu hören ist, stammt der Vorschlag von der DDR, die sogar bereit sein soll, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Doch angesichts der geologischen Lage wäre ein solches Unternehmen sinnlos: Durch die nahe gelegene Sandbank wäre die neue Fahrrinne bald wieder zugeschüttet. Inzwischen hat die Hafenbehörde die 'pap'-Meldung dementiert. Bekannt ist allerdings, daß es alte Pläne gibt. Sie stammen aus dem gleichen Zeitraum, in dem die DDR und Polen ihre Grenze auf zwölf Meilen ausdehnten. Doch nicht nur das weckt den Argwohn des Meeresforums. Wojciechowski: „Die neue, im Bau befindliche Nord-Süd-Autobahn führt nicht von Stettin aus nach Süden, sondern von Danzig aus, obwohl dadurch der Weg von Skandinavien aus länger wird.“ Kein Zweifel, die Stettiner fühlen sich von Warschau alleingelassen. „Es gibt“, findet auch der Abgeordnete Jerzy Golinski, „keine durchdachte Politik für die Küstenregion. Wir werden vernachlässigt.“ Das Meeresforum hat in einer Briefaktion alle alarmiert, von General Jaruzelski bis Jacek Kuron: „Aus unseren Informationen geht hervor, daß das derzeitige Vertragsprojekt mit der DDR den Grundsatz aufrechterhält, der den von der DDR einseitig geschaffenen Zustand aufrechterhält.“

Geschehen ist nichts, um die Gemüter zu beruhigen, berichtete das polnische Fernsehen inzwischen von Plänen, die Schiffahrtsrinne und Hafenzufahrt auszubauen. Geplant ist auch ein Segelhafen für Ausländer mit entsprechender Infrastruktur. „Mal sehen, wie die DDR reagiert, wenn plötzlich auch massenweise Westdeutsche, Tschechen und Schweden durch die Zwölfmeilenzone segeln“, reibt sich Tomaszewski die Hände. Doch während die der Grenze ausweichen können, ist das Problem für Frachter und Kriegsschiffe schwieriger. Mit größerem Tiefgang muß die Zufahrtsrinne benutzt werden, und die führt nun einmal durch die Zwölfmeilenzone der DDR.

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