: Nazi-Paranoia an Berliner Schulen
■ „Antifaschistische Schutztruppen“ zogen gestern bewaffnet durch die Straßen, um der Polizei die Arbeit abzunehmen / Nazis ließen sich nicht blicken / Verfassungsschutz: Viele Rechtsextreme verließen in den letzten Tagen die Stadt / „Schutztruppe“ verhaftet
Gestern mittag vor der Schöneberger Sophie-Scholl Schule: Etwa 30 Jugendliche setzen sich Richtung Potsdamer Straße in Bewegung. Aufgeregtes Stimmengewirr sowie das eine oder andere Stuhlbein in den Fingern dieser deutsch-türkischen Versammlung lassen erahnen, daß die Jugendlichen nicht bloß auf dem Schulweg sind. Und tatsächlich: „Wir beschützen Schöneberg vor den Nazischweinen“, übertönt ein etwa 14jähriger Südländer seine durcheinanderredenden Kumpel. Schon den ganzen Morgen würden sie durch den Stadtteil laufen und aufpassen, daß die Skinheads am Hitlergeburtstag nicht frech würden. „Auch in den anderen Bezirken gibt's jetzt Schutz-Truppen“, weiß einer der Stuhlbeinbewaffneten zu erzählen und zieht stolz sein funkelnagelneues Springmesser aus dem Ärmel. Seine Freunde warten daraufhin mit Schlagringen, Tränengas und Totschlägern auf. „Wenn 'Bild‘ schreibt, alle Türken würden heute zu Hause bleiben, weil sie Angst hätten, dann ist das gelogen. Jetzt wehren wir uns erst recht“, erklärt der Messerbesitzer unter dem johlenden Beifall seiner Freunde. Noch hätten sie keine Skinheads gesehen, aber mittags, so ginge das Gerücht um, würden die Neonazis die Sophie-Scholl-Schule „aufmischen“. „Deshalb sind wir hier“, so der Wortführer.
Helle Aufregung herrscht auch in der Schule selbst. „Das sind doch alles nur Gerüchte“, empört sich einer der Lehrer, die am Eingang stehen. Immer wieder verscheuchen sie die neugierigen SchülerInnen, die sehen wollen, was nicht in Sicht ist: Kein einziger der angekündigten Glatzköpfe läßt sich an diesem Tag blicken. „Viele Schüler sind heute zu Hause geblieben, nicht nur Ausländer“, erklärt eine Schülerin der Gesamtschule. Die Gerüchteküche um eventuelle Überfälle sei kurz vorm Überkochen. „Alle haben immer nur gehört, daß heute was passieren soll. Genaueres weiß keiner“, meint auch eine Achtkläßlerin und beschwert sich darüber, daß der Rechtsradikalismus in ihrem Unterricht kein Thema sei.
Gerüchte über Nazitreffs, -aufmärsche oder dergleichen beschäftigen gestern nicht nur die Sophie-Scholl-Schule. Weder am Theodor-Heuss Platz noch am Reichsttag versammelten sich die prophezeiten Rechtsradikalen. Außer zahlreichen sensationsgierigen Reportern und diversen Streifenwagen der Polizei herrschte der normale Verkehrsstau an allen Plätzen Berlins. Eine anvisierte Gruppe von 50 kurzgeschorenen Bomber-Jackenträgern entpuppte sich bei näherem Hinsehen als Touristengesellschaft amerikanischer Soldaten. Des Rätsels Lösung: Zahlreiche Angehörige der rechtsradikalen Szene haben, so die Informationen des Verfassungsschutze, Berlin den Rücken gekehrt und sind gen Westdeutschland gefahren.
„Keine außergewöhnlichen Vorkommnisse“, meldete auch der Lagedienst der Polizei. Allerdings sei der Streifendienst an Schulen, Gedenkstätten und sonstigen Plätzen gestern verstärkt worden. Neun junge Leute einer sogenannten „Stadtteil-Schutz-Truppe“, sind nach Angaben der Polizei gestern früh in Kreuzberg und Neukölln festgenommen worden. Sechs Männer im Alter zwischen 22 und 24 Jahren wurden in der Nähe der Synagoge am Fränkelufer gestoppt. In ihrem Auto fanden die Beamten eine Gaspistole, zwölf Schlagstöcke, vier Sturmhauben, sechs Reizstoffsprühgeräte sowie fünf Motorradhelme, vier Sturmhauben und einen Stahlhelm. Ein weiteres Auto wurde in der Neuköllner Herrmannstraße angehalten. Die drei Insassen des Vehikels hatten Messer, Sturmhauben, Reizgassprühgeräte sowie ein Stahlrohr bei sich. Außerdem lag im Auto eine Liste mit 40 Orten, die von „Fahrzeugwachen“ überwacht werden sollten. Gegen acht der so gerüsteten Autofahrer ordnete ein Vernehmungsrichter nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz Polizeigewahrsam bis gestern nachmittag an.
Der Sprecher der Innenverwaltung, Werner Thronicker, sprach im Zusammenhang mit der Festnahme der selbsternannten „Schutz-Truppen“ von einer schlimmen Entwicklung. Rechtsextremisten und Alternativszene würden sich gegenseitig hochschaukeln, sagte Werner Thronicker. Bei allem Verständnis für die Sorgen der Antifaschisten über neonazistische Aktivitäten, könne dies kein Grund sein, sich zu bewaffnen. Für die Gewährleistung des inneren Friedens in der Stadt sei einzig und allein die Polizei zuständig, sagte Thronicker.
cb
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen