„In Tibet zeigt China Schwäche“

■ Der 14.Dalai Lama setzt auf Gespräche mit der chinesischen Führung / Seinen Anhängern predigt er Gewaltlosigkeit / Die Weltöffentlichkeit soll gegen die Unterdrückung der Tibeter protestieren / Eine internationale Organisation soll die Lage auf dem „Dach der Welt“ untersuchen / Ein Interview von Jürgen Kremb

Das geistige Oberhaupt der Tibeter, der 14.Dalai Lama, nimmt derzeit in Straßburg an einer Konferenz für Menschenrechte teil. Im vergangenen Jahr hatte der 54jährige, der seit 30 Jahren im nordindischen Daramsala im Exil lebt, der chinesischen Regierung angeboten, daß sie die militärische Oberhoheit über Tibet behalten könne, wenn die Tibeter im Gegenzug mehr Autonomie in ihrem Land erhalten würden. Ferner müßten Menschenrechte gewahrt und die einmalige Natur auf dem „Dach der Welt“ geschützt werden. Doch statt zu Gesprächen kam es zu blutigen Unruhen. Im März wurde dann das Kriegsrecht über Tibet verhängt.

taz: Ihre Heiligkeit, in Tibet wurden im März mehrere Demonstrationen blutig niedergeschlagen und das Kriegsrecht ausgerufen. Wie sieht nun die Lage dort aus?

Dalai Lama: Seit dem 10.März ist niemand mehr aus Tibet rausgekommen. Eine große Menge von chinesischen Soldaten und bewaffneter Volkspolizei wurden nach Lhasa gezogen und Truppen aus den Ostprovinzen nach Tibet verlegt. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung sind sehr hoch. Es wird von 200 bis 800 Toten berichtet. Ich halte es für dringend geboten, daß eine internationale Organisation vor Ort Untersuchungen anstellt.

Gerade junge Tibeter im Exil wollen mit Waffengewalt gegen die Chinesen kämpfen. Was sagen Sie dazu?

Wenn die Dinge wirklich derart außer Kontrolle gerieten, müßte ich mich, analog zu meinem Glauben, zurückziehen.

Auch die chinesische Aggression nimmt zu. Ist Ihre Anwaltschaft für den gewaltlosen Weg gescheitert?

Ich glaube nicht. Viele junge Leute, die sehr radikal für den bewaffneten Kampf eingetreten sind, ändern ihre Meinung, wenn sie einen meiner Vorträge über den gewaltlosen Weg gehört haben. Noch hört man die Stimme des Dalai Lama. Wielange aber, das weiß ich nicht.

Dennoch scheint es, als gäbe es eine zunehmende Opposition unter Tibetern im Exil gegen das Exil-Kabinett in Daramsala und den Dalai Lama.

Nach meinen Vorschlägen in Straßburg gab es eine Menge Leute, die enttäuscht waren. Einige sagten sogar, der Dalai Lama hat unsere Interessen verkauft. (Er lacht) Wenn jemand den Dalai Lama kritisiert, ist das für mich zunächst aber ein gutes Zeichen. Es bedeutet, daß sich in der Exilgemeinde eine demokratische Gesinnung durchsetzt. (Er lacht laut) Sehen Sie, ich bin kein gewählter Vertreter. Ich bin zu meiner Stellung auch nicht durch leere Versprechungen gekommen, nur durch einen natürlichen Prozeß. Die Leute trauen mir als Mönch. Solange die Leute glauben, daß die Institution des Dalai Lama sinnvoll ist, wird es diese geben. Wenn es diese nicht mehr gibt, wird sie beendet werden.

Heißt das, ob es einen 15.Dalai Lama gibt, hängt vom Willen der Tibeter ab?

Oh ja. Ich habe 1969 in einer offiziellen Erklärung gesagt, ob die Instituion des Dalai Lama bestehen bleibt, hängt vom Willen des tibetischen Volkes ab.

Vom tibetischen Volk oder der chinesischen Regierung?

Natürlich vom tibetischen Volk. Schon seit 30 Jahren sagen die Chinesen, der Reaktionär Dalai Lama oder der Wolf in der Mönchskutte. Aber der Dalai Lama ist in den Augen der Tibeter immer noch der Dalai Lama.

Haben Sie keine Angst, daß Ngapoi Ngawang Jimen, der Vorsitzende des tibetischen Volkskongresses, nach dem Tod den Panchen Lama im Frühjahr dieses Jahres der starke Mann in Tibet wird?

Nein, er ist nach wie vor sehr um die tibetische Kultur und das Recht Tibets bemüht. Die Frage ist nur, wie beim Panchen Lama auch, inwieweit er ungehindert öffentlich Stellung nehmen darf. Ich glaube, es gab ein paar Stellungnahmen, die gegen seinen Willen verfaßt wurden.

Es gibt Leute, die sagen, er sei eine Marionette Chinas.

Einerseits ist er eine Marionette Chinas, andererseits ist er aber, wie auch der Panchen Lama, sehr um die Zukunft Tibets besorgt.

Wie stehen die Chancen für weitere Gespräche mit der chinesischen Regierung?

Sie haben uns ihre Gesprächsbereitschaft erklärt. Und jeder vernünftige Mensch weiß, daß dies der einzige Weg ist. Es ist nun 30 Jahre her, daß die chinesische Seite auf Repression setzt. Doch je größer die Repression ist, desto größer wird der Widerstand. Als jetzt das Kriegsrecht ausgerufen wurde, sagten mir junge Leute, solange das tibetische Volk nicht vollständig ausgerottet ist, werden die Chinesen mit ihrer Repression nur noch mehr Widerstand säen.

1983 waren Sie sehr optimistisch, zurückzugehen. Wie sieht es gegenwärtig damit aus?

Ein kurzer Besuch ist auch heute möglich. Es besteht sogar grundsätzlich die Möglichkeit, daß ich meinen alten persönlichen Freund Deng Hsiaoping wiedertreffe, bevor es zu spät ist. Doch davor muß man sich nähergekommen sein. Auf Dauer zurückzugehen ist sehr schwierig, bevor wir uns nicht in den Verhandlungen ein großes Stück nähergekommen sind. Gerade nach dem plötzlichen Tod des Panchen Lama haben mir viele Tibeter und sogar chinesische Freunde geschrieben, ich sollte mich nicht in chinesische Hände begeben, weil sie geschockt waren über diesen schnellen Tod. Sie baten mich, sehr vorsichtig zu sein.

Eine Frage, die weit zurückgeht: 1954 waren Sie als junger Mann in Beijing und schrieben ein Gedicht, das Mao Zedong lobt. Was hatte Sie dazu bewogen?

Damals bat mich ein mongolischer Lama, ein Gebet für ein langes Leben des Vorsitzenden Mao Zedong zu schreiben. Ich erachtete damals den Vorsitzenden Mao als einen revolutionären Führer. Wie er auf Leute zuging, hatte etwas Bemerkenswertes. Einerseits wollte ich das damit ausdrücken, doch wenn ich andererseits nach dieser Aufforderung nichts geschrieben hätte, hätte das geheißen, daß ich eine negative Haltung ihm gegenüber hege. Es war auch etwas Diplomatie dabei.

Wenn Sie noch nicht müde sind, erzähle ich eine längere Geschichte dazu: Es war 1954, und ich traf mich zu meinem zweiten Gespräch mit Mao Zedong. Vier Stunden, nur wir beide, und ein tibetischer Dolmetscher - ein alter tibetischer Kommunist, der schon seit den vierziger Jahren in der KP war. Mein Eindruck war, daß der Vorsitzende Mao damals ein ehrliches Interesse an Tibet hatte. Auf seiner Ebene, als Kommunist, argumentierte er mit Vokabeln der unterprivilegierten Klasse und der einfachen Leute. Und da gab es keinen Nationalismus. Damals redete man vom Internationalismus.

Bei einer anderen Gelegenheit gab es ein Treffen, an dem tibetische Offizielle, ich selbst und der Vorsitzende Mao teilnahmen. Wir saßen Angesicht zu Angesicht, und gegenüber hatten zwei Generäle Platz genommen, die in Tibet stationiert waren. Er zeigte auf die beiden und sagte: „Ich habe die zwei Generäle nach Tibet geschickt, um euch zu helfen, nicht um euch zu unterdrücken. Wenn sie nicht nach euren Wünschen handeln, laßt mich das wissen, und ich werde sie wieder abziehen.“

Ein andermal sagte er zu mir: „Wir haben Han-Chinesen in euer Land geschickt, um es zu entwickeln. Nach 20 Jahren habt ihr ein gewisses Niveau erreicht, und wir werden die Chinesen wieder abziehen. Dann müßt ihr uns helfen.“ Mir imponierte die Art, wie er Leute ansprach.

Als ich nach Tibet zurückreiste, hatte ich Vertrauen und neue Hoffnung. Damals hatte ich sogar den Wunsch, der kommunistischen Partei beizutreten. Die revolutionäre Idee ist manchmal etwas Wunderbares. Für einen buddhistischen Mönch gibt es da einige Gemeinsamkeiten. Doch Ende 1955 brach die offene Revolte in Osttibet aus. Ich versuchte über offizielle Kanäle, aber auch auf nicht offiziellem Wege, mit dem Vorsitzenden Mao Kontakt aufzunehmen. Doch es gab keine Antwort, keinen Abzug. Tibetische Kommunisten wurden jetzt unter Hausarrest gestellt oder ins Gefängnis geworfen. Ich entschloß mich zur Flucht. In den sechziger Jahren, während der Kulturrevolution, wurde es dann jedem klar, daß dort etwas wirklich Verrücktes passiert.

Haben Sie nie gedacht, daß Ihre Flucht vor 30 Jahren ein Fehler war?

Nein. Bis zur Kulturrevolution gab es selbst unter meinen hohen Beamten Zweifel, ob das richtig war. Doch nicht mehr während der Kulturrevolution. All das Schreckliche wäre auch passiert, wenn ich dort gewesen wäre. Das Leben des Panchen Lama war zweimal in sehr großer Gefahr und konnte nur durch Intervention von Premier Zhou Enlai gerettet werden.

Sie meinen also, Sie wären in der Kulturrevolution ermordet worden?

Ich weiß es nicht, aber natürlich bestand die Gefahr.

Aber es ging ja nicht nur um den Dalai Lama, sondern um das ganze tibetische Volk und dessen Kultur.

Lassen Sie mich ergänzen: Es ging nicht um meine Person. Aber weil ich flüchtete, kamen etwa 100.000 Tibeter nach Indien und brachten ihre Kultur mit. Heute sind Tibeter über 30 Länder auf der ganzen Welt verstreut. Um zu erklären, was das bedeutet, erzähle ich noch eine Geschichte: 1959, als der Aufstand niedergeschlagen wurde, berichtete ein Offizieller, wir haben den Aufstand siegreich niedergeschlagen. Daraufhin soll der Vorsitzende Mao gefragt haben: „Was ist mit dem Dalai Lama passiert?“ Der Offizielle sagte: „Er ist geflüchtet.“ Darauf sagte Mao: „Dann haben wir verloren.“

Tibet war früher ein theokratisches Land. Würde es in einem Tibet unter Ihrer Kontrolle in Zukunft freie Wahlen geben?

1951 hatten wir bereits ein Reformkomitee ins Leben gerufen und haben Maßnahmen ergriffen, den Bauern die Schulden zu erlassen und die Pacht zu reduzieren. Eine der ersten Amtshandlungen im indischen Exil war, eine gewählte Vertretung zu etablieren. 1963 schrieben wir eine Verfassung für Tibet. Ich bestand sogar darauf, daß darin festgelegt wurde, daß mein Amt mit zwei Dritteln der Stimmen abgeschafft werden kann. 1969 fügte ich dann hinzu, ob die Institution des Dalai Lama weiterhin besteht, hängt vom tibetischen Volk ab. Später erklärte ich auch, daß ich auch kein Amt in einem gewählten tibetischen Selbstvertretungsorgan übernehmen würde. Denn wenn ich die Führung der Regierung übernähme, bestünde die Gefahr, daß die Leute zu demütig meiner Linie folgten und keine Kritik wagten. Ich bin schon 54. Ich kann vielleicht nur noch 20 Jahre aktiv sein. Vielleicht kann ich nicht so lange aktiv bleiben wie Deng Hsiaoping. Die Verantwortung für Tibet soll in Zukuznft von dem tibetischen Volk übernommen werden, nicht von einem einzigen Dalai Lama. Das ist zu gefährlich und nicht gut.

Sie baten im März die Regierungen der Welt, der chinesischen Gewalt in Tibet Einhalt zu gebieten. War das Echo nicht frustrierend?

Einerseits waren die Reaktionen der Medien und einiger internationaler Organisationen sehr ermutigend. Auf diplomatischem Wege drückten einige Regierungen ihre Besorgnis aus. Der amerikanische Senat, das Europaparlament und das Schweizer Parlament forderten in einem dringenden Aufruf zur Beilegung der Spannungen auf. Das ist ermutigend. Angesichts von unschuldigen Leuten, die gefoltert und ermordet werden, kann ich nur an die Weltöffentlichkeit appellieren, dem Einhalt zu gebieten.

Wird der sino-sowjetische Gipfel der tibetischen Sache helfen?

Indirekt ja. Wenn die internationalen Beziehungen offener werden, trägt das zum Abbau von Spannungen und übermäßigem Mißtrauen bei. Bisher gibt es nur Gewalt und keinen Raum, sich gegenseitig zuzuhören. Daß die chinesische Seite Gewalt benutzt, ist schließlich nur ein Zeichen ihrer Schwäche, nicht ihrer Stärke. Auch wenn im Privaten Argumente fehlgeschlagen sind, bricht Gewalt aus. Das ist ein Beweis der Schwäche, nicht der Stärke. China wird in der Weltöffentlichkeit damit nicht besser dastehen.