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Bilianz nach dem „Führergeburtstag“

■ Rechtsradikale und Antifaschisten auf der Straße / Polizei nahm 100 Menschen fest, ca. 80 davon aus der linken Szene / Zum Waffenarsenal gehörten Baseballschläger und Ketten / Viele türkische Jugendliche nahmen an Gegendemonstrationen teil

Der 100. Geburtstag des Nazi-Führers Adolf Hitler brachte in der Nacht zum Freitag in Berlin vor allem Antifaschisten auf die Straßen. Die Polizei meldete in einer Bilanz etwa 100 Festnahmen, 13 verletzte Beamte sowie eine Vielzahl von Anzeigen wegen unerlaubten Waffenbesitzes, Bildung bewaffneter Haufen und Landfriedensbruchs.

Schlagstöcke, Baseballschläger, Gaswaffen, Sturmhauben, schwere Ketten und andere gefährliche Gerätschaften wurden sichergestellt. Bei den zahlreichen Vorfällen war es allerdings nicht zu schweren Krawallen gekommen, weil der Polizei zufolge nur vereinzelt Rechtsextremisten auftraten. Etwa 80 Prozent der vorübergehend Festgenommenen zählte die Polizei zur linken Szene. Innensenator Pätzold (SPD) verurteilte alle Gewalttätigkeiten und warnte vor einer „Spirale von Gewalt von rechts und Gegengewalt von links“. Der SPD-Politiker äußerte Verständnis dafür, daß sich in der Nacht zahlreiche türkische Mitbürger an Umzügen beteiligt hatten.

Zu größeren Zwischenfällen kam es zwischen 22.00 und 2.00 Uhr in Kreuzberg und Neukölln, als etwa 500 Angehörige des „Antifa-Spektrums“ laut Polizeiangaben scheinbar planlos durch die Straßen zogen. Die Gruppe, unter ihnen etwa 50 Prozent Türken, warf Scheiben ein und stürzte Bauwagen um. Die Polizei nahm 37 Personen vorübergehend fest. In einer U -Bahn wurde ein 16jähriger Skinhead von zehn Männern verprügelt.

In Wedding hatten sich zehn junge Männer im Alter von 16 bis 22 Jahren mit zahlreichen Geräten bewaffnet auf den Weg gemacht, um nach Nazis zu suchen. In Neukölln hatten sich drei Jugendliche vergeblich zusammengetan, um Skinheads zu verdreschen, berichtete die Polizei.

In Wedding wurde ein 46jähriger Polizeikommissar durch den Schuß aus einem Gasrevolver verletzt, nachdem er zwei Männer verfolgt hatte, die Schaufensterscheiben und Hauswände mit „SS“ und „SA“ sowie mit Hakenkreuzen und einer goldenen Hundert beschmiert hatten. Im Bezirk Neukölln griffen Rechtsradikale mit nagelbesetzten Baseballschlägern eine Gruppe von acht Männern, darunter vier Türken, an. In der Karlsgarten-Grundschule im selben Bezirk legten vermutlich ebenfalls Rechtsradikale ein Feuer.

„Bombe auf das Pack“

Am Anfang ist gar nicht klar, worum es eigentlich geht. 22.30 Uhr auf dem Herrmannplatz. Jede Menge Leute, 20 Wannen, die mit Blaulicht in die Sonnenallee und in die Karl -Marx-Straße einbiegen. Ein junger Türke hat einen Schlagstock in der Hand, der im Dunkeln metallisch schimmert. Die Bewegung geht in Richtung Rathaus Neukölln. Immer mehr Menschen kommen zusammen, folgen den anderen. Langsam formiert sich ein richtiger Demonstrationszug. „Nazis vertreiben, Ausländer bleiben“, skandieren schließlich an die 400 bis 500 Menschen. Es sind vor allem Jugendliche, in der Mehrzahl TürkInnen, dazwischen Gesichter aus der Kreuzberger Szene. Während sich der Zug durch die dunklen Neuköllner Seitenstraßen schiebt, kommt es immer wieder zu Wortgefechten mit Fensterguckern und Balkonstehern, die den DemonstrantInnen ausländerfeindliche Parolen zurufen. Die Stimmung schwankt zwischen Wut und Hilflosigkeit, daneben das Gefühl, daß hinter jeder Gardine, in jeder Eckkneipe gerade die stehen könnten, auf die sich die Parolen der DemonstrantInnen beziehen. Von Neukölln aus geht es zurück nach Kreuzberg. Auf dem Kottbusser Damm fliegen plötzlich Flaschen und Gläser aus einem Fenster im zweiten Stock. „Nazis raus“, fordern die DemonstrantInnen. „Die räumen wir“, ruft einer aus dem Zug. Doch statt dessen stürmen Polizeikräfte im Laufschritt das Haus, was ihnen heftigen Szenenapplaus einbringt. Die Werfer verschwinden vom Fenster, der Zug setzt sich wieder in Bewegung in Richtung Heinrichplatz. „Eine Bombe müßte man auf das Pack werfen“, sagt eine Frau, die mit anderen aus einer Eckkneipe in der Reichenberger Straße kommt, und schaut abfällig auf die Jugendlichen. „Wißt ihr schon“, sagt ein hinzutretender junger Mann und lächelt süffisant, „wißt ihr schon, daß Adolf heute Geburtstag hat?“

dpa/Frauke Langguth

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