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Prima Leben unterm Stiefel

Montagexperten kommen zu Wort. Heute: Anselm Schöndube  ■ Ü B E R L E B E N S B Ö R S E 8 9

Jens H. ist Veranstaltungsfetischist. Selten, daß er zu Hause in seiner kleinen Einzimmerwohnung in Neukölln den Abend verbringt. Meist treibt es ihn in die beheizten Theater, Vortragssäle, Kinos in der Innenstadt. Oft reist er in andere Städte, sucht als erstes in öffentlichen Gebäuden nach Veranstaltungskalendern. Bücher liest er keine, das sei zu privatistisch, aber Lichtbildervorträge mit Signierstunde in der Urania, die besucht er gerne. Die Themen sind ihm dabei gleich.

Neulich setzte sich ein Architekt mit der Ästhetik der Straße auseinander. Da hat Jens H. sich in die Diskussion eingeschaltet und seine Thesen vorgetragen: Einmals seien die Autobahnkreuze mit knappen Einfädelspuren gebaut worden, ein Zeichen für die Sozialpolitik der CDU/CSU. Später dann, in der sozialliberalen Ära, hätten eine Fülle von Schleifen und Verteilerspuren die Bereitschaft zum Dialog signalisiert. An den realen Vorfahrtsverhältnissen sei hingegen nichts geändert worden. Als Jens H. schließlich vor kurzem über das neuerrichtete Autobahnkreuz Braunschweig -Nord gefahren sei, habe er die neue Armut förmlich beim Einfädeln gespürt. Zu diesem Zeitpunkt der Argumentation waren die älteren Damen, die außer ihm den Nachmittagsvortrag beigewohnt hatten, längst zu Kaffee und Kuchen entschwunden. Sowas läßt Jens H. gleichgültig. Sollen doch seine Bekannten CD-Player und Videogeräte kaufen, sich beim Teleclub anmelden. Er geht einen anderen Weg. Er ist die Öffentlichkeit, an die sich die Kulturschaffenden wenden. Natürlich gibt es da noch ein, zwei Pressevertreter, die Jens H. immer wieder begegnen. Er erkennt sie daran, daß sie unentwegt mitschreiben, ein kleines Lämpchen an und ausknipsen, manchmal aber hochschauen, verschreckt, als wäre die Veranstaltung schon zu Ende. Die zählen nicht, denkt Jens H., die sind auf Freikarten hier. Ich habe bezahlt, also bin ich die Öffentlichkeit. Runde Gedenktage mag Jens H. am liebsten. Und so freut er sich, daß es jedes Jahr mehr werden. Da erscheinen dann lange vor dem Termin die ersten Hochglanzbroschüren, denn eine Veranstaltung kommt selten allein. Und mit viel Glück gibt es womöglich eine Veranstaltung, die eine schon gewesene Veranstaltung nachstellt. Wobei der Veranstaltungsbegriff von Jens H. sehr weit ist: Da fällt auch der Sturm auf die Bastille drunter. Bei einem anderen Jubiläum dieser Tage hat er sich mehr versprochen: eine den Kontinent durchziehende Blutspur als Mahnmal oder wenigstens eine Revue „Der Führerbunker“ von Zadek. Nicht daß Jens H. für braune Ideologie anfällig gewesen wäre, er vergleicht nur. Das gibt sich, denkt er, jetzt feiern wir erstmal Revolution ab. Vor den Veranstaltungsmachern sind alle Dinge sowieso gleich. Nicht für den 'BZ'-Leser in der U-Bahn, nicht für den Aspekte -Seher vor dem Fernseher, nicht für Jens H., denkt Jens H., den Bewahrer der Öffentlichkeit. Wir müssen uns Jens H. als einen glücklichen Menschen vorstellen.

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