: DIE RUHE WÄHREND DES STURMS
■ „Iron Path“, die neue Platte von „Last Exit“ - oder: Der eiserne Pfad zum letzten Ausgang
Sperren Sie vier erwachsene Männer eine Woche lang in eine Zelle, geben ihnen nichts mit als ihre Instrumente, Verstärker und genug Strom, um alles in Funktion zu halten. Den Überlebenskampf der vier Musiker, jeder einer der Stärksten auf seinem Gebiet, schneiden Sie heimlich mit einem 32-Spur-Tonband mit. Das Resultat ist eine Eruption, ein Konglomerat aus verzerrten, verstümmelten und wieder zusammengeflickten Krächen: die neue Platte von „Last Exit“, ein Quartett, das sich jeder schachtelhaften Kategorisierung durch konsequentes Verfolgen einer eigenen Linie glaubhaft entzieht. Zusammengearbeitet haben vier Individuen, die sich wahrscheinlich am freiesten fühlen, wenn sie vollkommen alleingelassen werden mit sich und ihrem Instrumentarium gelassen werden. Es handelt sich um Sonny Sharrock (Gitarre), Peter Brötzmann (Saxophon), Bill Laswell (Baßist und Co-Produzent) und Ronald Shannon Jackson (Schlagzeug).
„Iron Path“ ist das erste Studioalbum der Band, nachdem die ersten vier Platten komplett live eingespielt worden waren. Die Gruppe scheint prädestiniert für Konzertauftritte, allein schon, weil man ihre Musik, soll sie ihre volle Explosivkraft entfalten, dermaßen laut hören muß, daß es zu Hause jeden Nachbarn sofort an die Decke jagt. Aber auch der Konzertkonsum dieses Stoffs ist nicht ungefährlich. Bei einem ihrer ersten Konzerte seit der Gründung 1986 im Berliner Quartier Latin entwickelte sich eine so brachiale Geräuschmaschinerie, daß man ständig flüchten wollte. Aber irgend etwas hielt einen gefesselt zurück. Lärm kann eine magische Anziehungskraft ausüben und eine vorher nicht gekannte Schönheit entwickeln. Das Problem bei dem Lärm ist nur: man muß ihn wollen. Er darf nicht zwangsläufig über einen herfallen, wie das ewige Autorauschen auch noch hinter den dicksten Schallschutzfenstern.
Trotzdem scheint der Sound auf diesem Studioalbum noch weiter verdichtet zu sein als bei den Live-Konzerten. Die einzelnen Instrumente sind teilweise kaum noch differenziert wahrnehmbar. Die Kreissägengitarre Sharrocks mündet in Brötzmanns Blasinferno, der Baß wummert einem von hinten über den Schädel. Darunter der vorwärtstreibende schlagende Rhythmus als gnadenloser Beschleuniger. Trotzdem herrscht keinerlei Hektik, auch von Unruhe keine Spur, hier regiert die Ruhe während des Sturms, die alles bisher Dagewesene hinwegfegt. Improvisierte Musik, Free Jazz, alles Wurzeln von „Last Exit“, aber alles keine adäquaten Beschreibungsmuster. Wenn es hier überhaupt einen Erklärungsbedarf gibt, könnte man höchstens auf die Biographie der einzelnen Mitglieder zurückgreifen.
Der Wuppertaler Brötzmann ist im Free Jazz verankert, hat zahlreiche Produktionen für das Berliner FMP-Label eingespielt, war oder ist Teil von Alexander Schlippenbachs Globe Unity Orchester und spielt häufig im Duo mit dem Frankfurter Alfred 23 Harth, ebenfalls Saxophonist. Letzten Sommer war Brötzmann Mitstreiter im vierwöchigen Cecil -Taylor-Workshop in Berlin und bot dem Tastenderwisch saxophonell erfolgreich die Stirn. Kurzgesagt dürfte er der heftigste und ausdauerndste Bläser dieses Genres sein.
Auch die anderen Musiker von „Last Exit“ haben auf ihrem Gebiet kaum Konkurrenten zu fürchten. Laswell ist neben seinem Baßspiel noch Multifunktionstalent als Produzent von Mick Jagger bis „Motörhead“ und seiner Hausband „Material“. Inzwischen hat er durch seine Produzententätigkeit mehr Ruhm und sicherlich auch Geld eingespielt als durchs Baßzupfen. Auch bei „Iron Path“ hat er heftig an den Reglern gezogen. Schlagzeuger Shannon Jackson dürfte in Europa ebenfalls spätestens seit Beginn der Achtziger kein Unbekannter mehr sein. Mit seiner „Decoding Society“, an der Gitarre damals sein kongenialer Kollege James Blood Ulmer, brach er eine Schneise in die in ruhigem Sanftmut dahindarbende Jazzszene. Man prügelte den Weg frei für einen vom Punk beeinflußten „No Wave“, mitunter „Free Funk“ genannten, damals revolutionär neuen Sound, der die puristischen Jazzfans reihenweise auf die Palme trieb, weil sie einen Verrat an der reinen Lehre witterten. Auch das ein Mosaiksteinchen im Lärmgewerbe des „Letzten Ausgangs“. Bleibt noch Sonny Sharrock zu erwähnen, der die Parole verbreiten ließ: „Everbody needs their daily Coltrane.“ In seiner Gitarrenarbeit schimmern immer wieder Melodiefragmente durch, wie funkelnde Diamanten versteckt er sie sorgfältig zwischen einem Berg aus Geröll und Schutt.
„Last Exit“ ist eine adäquate Antwort auf all die miese, billige ohrwurmverseuchte Einschmeichelmusik, die uns entgegenschwappt, wenn wir morgens das Radio einstöpseln. Man höre nur einen Titel wie „Detonator“, eine knappe Dreieinhalb-Minuten-Nummer, die alles enthält, was bei anderen Produktionen nicht auf einer ganzen LP Platz findet. Eine heftige Verteidigungsrede vom Saxophon, Drohgebärden vom in die Tiefe eines Fahrstuhlschachts abgestürzten Baß, monotones Gitarrenverzerre, immer wieder dies unschuldige Blasen auf dem Weg zum Schafott. Brötzmann will nicht sterben, aber die anderen kreisen ihn immer weiter ein, bis ihn endlich die Kraft seiner eisernen Lunge verläßt. Für dieses Stück hat es ihn erwischt. Beim „Marked for Death“ wird er plötzlich wieder quicklebendig sein. Wie Kinder, die „tot“ spielen, werden die Rollen immer neu verteilt.
Die Titel der Platte klingen insgeesamt programmatisch, der „eiserne Pfad“ führt den Hörer vom „Gebet“ über „die Feuer Trommel“ bis in den „Teufelsregen“. Wer hier nicht zuhört, dürfte nirgendwo mehr Vergebung erfahren. Wer dem Inferno ausweichen will, wird eines Tages von ihm überroltt werden. Er wird Opfer der schönsten Musik seit Erfindung des Autounfalls.
Andreas Becker
Last Exit: Iron Path; Virgin Venture, LP-Nr.: 209 744.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen