Ein falsches Bild

■ Nicht eins, sondern vier schwarze Quadrate: Die Malewitsch-Retro in Amsterdam krankt am Datierungsproblem

Ulf Erdmann Ziegler

Man steigt eine breite Treppe hoch. Mildes helles Oberlicht fällt in ein rotes, quadratisches Tuch, das im spitzen Winkel zur Treppe gehängt den Besucher wie schützend empfängt. Im oberen Stockwerk des Stedelijk Museums, Amsterdam, ist die zentrale Milchglastür verschlossen. Hinter dieser Tür liegt der Raum, der die beiden Gebäudeflügel als Zentralpunkt der symmetrischen Anlage trennt, oder verbindet.

Man macht also brav seinen Rundgang, eilt durch die erste Hälfte der Retrospektive Kasimir Malewitsch (die zweite Retro des Stedelijk Museums nach dem Krieg; die erste fand 1958 statt), um atemlos in jenen zentralen Raum einzutreten, der durch eine eingezogene runde Trennwand so hergerichtet ist, als stände man im Binnenraum einer sich nicht ganz schließenden gigantischen Litfaßsäule. Da hängt es also, das berühmte „Schwarze Quadrat“. Denkt man - und irrt sich.

Aber vor dem Quadrat ist Kasimir Malewitsch, geboren 1878 nahe Kiev, die Eltern Russen polnischer Abstammung. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, ein „unglaublicher Dummkopf“ (Selbstauskunft - später), der erst mit fünfzehn bemerkt, daß er die Landschaft, die er mit seinem Vater schweigend als „wunderschön“ wahrnimmt, auch malen kann. „Einmal, erinnere ich mich, nach einem schweren Wolkenbruch, der gerade vor Sonnenaufgang stattfand - wie da riesige Pfützen auf der Straße waren. Eine Herde Kühe ging da durch und ich stand da wie versteinert und sah zu, wie Wolkenfetzen über die Sonennscheibe zogen, die ihre Strahlen durch die Öffnungen der zerfetzten Wolken trieb, die sich in einer unbewegten Pfütze spiegelten; manchmal wurde das Wasser von den Kühen aufgewühlt und kräuselte sich und gleichzeitig spiegelten sich die Kühe darin.“

Nie hat Malewitsch die visuelle Brillanz seiner Kindheitserinnerung malerisch eingeholt. Nie erreichte er die lichte Leichtigkeit Monets. Die zähe Gewalt der Perspektive eines Dali, die komplexe Verwebung schwebender gegenständlicher Formen wie Picasso. Ganz anders schickte Malewitsch sich an, dem Angestelltenmileu zu entflüchten in die Riege der Großen unseres Jahrhunderts.

Er spart Geld und geht nach Moskau. Dort bekommt er Wind von der Tatsache, daß die Geschichte der Kunst nicht zwischen dem Pinsel und den grünen Wiesen stattfindet, sondern im Vormachtsstreit der Stile. So probiert es Malewitsch mit der französischen Tüpfelkunst - und zieht dann doch säuberlich die Bogen der Augenbrauen nach. Er reduziert Dinge und Gesichter auf Quader, Kegel, Rhomben und schafft doch nie die strenge Gebrochenheit der Kollegen in Paris. Just in die kubistischen Übungen tritt die gesuchte Kuh der Kindheit ein, die völlig ungeometrisch und ein wenig nach Esel aussehend ein Violinen-Bild komplettiert. Malewitsch dringt nicht vor zu den drängenden Problemen einer malerischen Sicht auf die Welt. Scharf am Rande des Dilletierens prescht er immer voran - zum nächsten Klamauk.

Den betreibt man aber in ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts mit heiligem Höllenernst. Jeder letzte Schrei wird als endgültige Wahrheit verkündet: „Heil dem schönen Orient!“ wünschen die Rayonnisten, die glauben, die Malerei sei im Bombast strahlenförmiger Gebilde der Offenbarung nah. „Hand in Hand mit Gebäude-Malern“ wollen die selbsternannten Avantgardisten sich zusammenschließen“ gegen den Westen, der unsere orientalischen Formen vulgarisiert“.

Das war 1913, also deutlich vor der Russischen Revolution. In diesem Jahr, sagt Malewitsch später, habe er das „Schwarze Quadrat“ gemalt. Er begrüßt die Revolution. Man verkündet endgültige Lebensentwürfe, designed den proletarischen Alltag vom Kachelofen bis zur Arbeitsjacke (Tatlin), entwirft gigantische Schachtelbauten (Malewitsch) und collagiert die Schrift ins industrielle Erscheinungsbild (Lissitzky). Man denunziert die Kollegen: Malewitsch putscht Chagall aus seiner leitenden Funktion einer Kunstschule in Vitebst, 1918.

Malewitsch flüchtet in die Pädagogik. Er bestellt ein dubioses analytisches Programm der malerischen Stile und drängt seine Schüler, „ihren“ Stil zu finden. Sein Haß gehört dem „ekklektizistischen Maler“ - der er selbst, unbestreitbar, ist. Seine abstrakte Schule bezeichnet er als „Suprematismus“. Lange, bevor er die Möglichkeiten, die im Quadrat liegen, auch nur annähernd ausprobiert hat, verspielt er die Strenge seiner Erfindung in einem fahrigen Geometrismus: Viele bunte Formen passen auf einen neutralen Hintergrund. Vage fühlt man sich erinnert an Kandinsky; aber Malewitsch ist Malewitsch - jenseits des Höhepunkts.

Er betätigte sich als Theoretiker. Über seine Schriften sagt Camilla Gray (die über „Das russische Experiment in der Kunst“ in den sechziger Jahren, mit 25 übrigens, ein sehr gut lesbares Buch veröffentlicht hat): „In Malewitschs Sprache zeigt sich eine schräge Mischung des analphabetischen, des patriarchischen und des echten Poeten, aber sein sehr unlogischer Gebrauch von Worten, oft in zwei oder drei Bedeutungen in demselben Werk, macht den Wert seiner Schriften zur Klärung seiner Ideen zweifelhaft“. (Vielleicht ist genau diese Mehrdeutigkeit ein Teil seiner Idee. d.S.)

Im zweiten Teil der Austellung, übrigens, zeigen seine Bilder wieder Leute, meist Bauern auf Feldern, starre Gestalten mit maskenhaften oder gänzlich ausgelöschten Gesichtern. Aber nicht, daß die Revolution ihre Partriarchen frißt, hat mich irritiert. Sondern das „Schwarze Quardat“, dessen Aura sich trotz aufwendiger Präsentation im zentralen Raum nicht entfalten wollte. Oder deutlicher: Sie war nicht da.

Zunächst fiel mir auf, daß eine große Texttafel - dem Bild gegenüber - das Quadrat von 1915 pries (1915 wurde ein „Suprematistisches Quadrat“ mit einiger Sicherheit zum ersten Mal gezeigt). Aber ein sehr viel kleineres Schildchen, fast am Fuß der runden eingezogenen Wand, wies das Bild als „Schwarzes Quadrat“ von 1929 aus. Ferner war das Quadrat deutlich nicht ganz quadratisch, sondern an der Oberkante leicht nach links abfallend. Drittens, - aber das sah ich erst am Abend, als ich den Katalog zur Hand nahm war es nicht das Quadrat, das im Katalog gleich vorn und sehr groß gezeigt wird: Dieses, das „Schwarze Suprematistische Quadrat“, 1914 - 1915, Tratiakow Galerie, Moskau, Leinwand, Öl, 79,5X79,5cm, war nämlich innerhalb des schwarzen Feldes hundertfach aufgeplatzt. Es war - im Gengensatz zu dem Amsterdamer Bild - in seine weißliche Umrandung sehr überzeugend, „fest“, eingepaßt. Aber es fiel auch an der Oberkante leicht ab.

Das in Amsterdam zentral präsentierte Bild lief im Katalog und in der Ausstellung als Exponat 67. Nur, das Exponat 67 im Katalog war nicht dasselbe wie an der Wand (wenn auch ähnlich). Und ferner wurde im übernächsten Saal ein weiteres „Schwarzes Quadrat“ gezeigt, ebenfalls von 1929, das auch im Katalog zu sehen ist (Exponat 68).

Niemand konnte mir das Rätsel erklären, außer Joop M.Joosten, der für die Retrospektive verantwortlich zeichnet. Zunächst war er selbst (offenbar ehrlich) überrascht, daß das Quadrat „Exponat 67“ in seiner Ausstellung nicht dasselbe war wie das „Exponat 67“ im Katalog. Aber er wußte Rat: Es gibt nämlich vier erhaltene Quadrate, zwei in Moskau, zwei in Leningrad. Als der Katalog schon in der Produktion war, hatte sich herausgestellt, daß das wohlproportionierte und vielfältig aufgeplatzte Quadrat nicht reisen durfte. Gewissermaßen in Verlegenheit, weil dieses als das wirklich „frühe“ Quadrat gilt, hatte man sich zu der suggestiven Präsentation des späteren Quadrats entschlossen. Allerdings hatte Herr Joosten übersehen, daß nicht jenes spätere gekommen war, welches er als Dia -Druckvorlage im Vorjahr bekommen hatte.

Und noch weitere merkwürdige Geschichten erzählte der Retro -Chef: daß drei wichtige Bilder (ein Schwarzer Kreis, ein Schwarzes Kreuz und das zweite gezeigte Schwarze Quadrat, alle von 1929) wahrscheinlich gar nicht von Malewitsch gemalt worden seien; sondern von Schülern. Daß die gegenständlichen (Bauern-) Bilder, die in Amsterdam als spätere gezeigt werden, vielleicht auch frühe sind. Irgendwann, vermutet Joosten wie Camilla Gray, habe Malewitsch auch nicht gemalt: nur wann?

Auch macht mich Herr Joosten darauf aufmerksam, wie seltsam es unter den Rissen des „frühesten“ Quadrats rötlich schimmert (man kann es im Katalog sehen; Joosten entdeckte es vor Ort, in Moskau). Er hält es für möglich, daß das Schwarze Quadrat über ein anderes abstraktes Bild gesetzt worden ist. Damit geriete die These ins Wanken, daß Malewitschs suprematistische Phase mit dem Schwarzen Quadrat einsetzte.

So bleibt, vorerst, von Malewitsch nichts als ein eher wackliges Konstrukt. Denn was hilft es zu sagen: er habe ein Quadrat gemalt, wenn es nicht quadratisch ist (ganz deutlich im darauffolgenden (?) „Roten Quadrat“, das mit einem kräftigen Zug nach rechts oben aus der Form springt).

Das Malewitsch ein wirklicher Erfinder war, ein Avantgardist (des Gedankens eher als der malerischen Praxis), wußten wir schon vor Amsterdam. Eine selbständige Rekonstruktion seines Werdegangs ist aber mit diesem Leihbestand noch nicht möglich. Mehr als fünfzig Jahre haben die wichtigsten Bilder dieses Mannes in sowjetischen Kunstkellern geschlummert. Jetzt müßten erstmal die Fachleute ran. Die alten Legenden tragen nicht mehr. Glasnost kommt nie zu spät - aber das Stedelijk Museum war diesmal, vielleicht, zu früh.

Kasimir Malewitsch, 1878 bis 1935, Stedelijk Museum, Amsterdam. Bis zum 28.Mai 1989. Katalog russisch/englisch bei Schirmer/Mosel, 86 DM, in Amsterdam hfl 55. Literaturhinweis: Camilla Gray, The Russian Experiment in Art 1863 - 1922, Thames and Hudson, London, ca. 30 DM