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Von einem Spitzel im Dienst des Zorns und der Liebe

■ James Agees „Preisen will ich die großen Männer“, ein Klassiker der Reportageliteratur, erscheint bei Schirmer/Mosel. Wir danken dem Verlag für die freundlich gewährte Erlaubnis, Joachim Sartorius‘ erläuternden Essay vorabzudrucken.

Joachim Sartorius

James Rufus Agee starb am 16. Mai 1955, im Alter von 45 Jahren, in einem New Yorker Taxi an Herzversagen. Seine Überschwenglichkeit, die Tragödie seines kurzen Lebens, seine von Millionen gelesenen Filmkritiken für 'Time‘ und 'The Nation‘ und einige Drehbücher - wie The African Queen - hatten ihm an der Ostküste eine Art Berühmtheit zu Lebzeiten beschert. Seine schriftstellerischen Werke, soweit sie nicht überhaupt postum auf den Markt kamen, wurden erst nach seinem Tode bekannter. Und eines, Preisen will ich die großen Männer, diese komplexe Reportage über drei arme Pächterfamilien im Süden der USA, 1941 erfolglos und zunächst folgenlos veröffentlicht, sollte sich in den sechziger Jahren rasch als amerikanischer Klassiker durchsetzen. Selbst der hellsichtige W.H.Auden, der noch geschrieben hatte, man könne die Tage zählen, bis der Filmkritiker Agee zum Dissertationsthema würde, hatte solches nicht vorausgesehen.

Heute wird Agee, ganz in der gleichen Weise wie Malcolm Lowry mit Unter dem Vulkan, mit diesem einen Buch identifiziert. Und wie jedes große Buch kann Preisen will ich die großen Männer auf vielen Ebenen gelesen werden: als die kritische Sozialreportage, als die es zunächst intendiert war, als „wortfotografische“ Dokumentation, als Metajournalismus, aber auch als verworrenes Bekenntnisbuch seines Autors. Das kolossale, aus hybriden Teilen zu einer übergreifenden, wie Agee hoffte musikalischen, Struktur gefügte Buch spiegelt viel von seiner komplizierten Entstehungsgeschichte wider.

Ursprünglich sollte es nur eine kurze, 20, allenfalls 30 Seiten umfassende Reportage über das Los der Baumwollpächter im tiefen Süden sein. Der Auftrag dazu kam 1936 von 'Furtune‘, der konservativen, hoch oben im New Yorker Chrysler Building residierenden Zeitschrift, für die Agee seit einigen Jahren immer widerstrebender gearbeitet hatte. Doch dieser Auftrag machte ihn überglücklich. „Er war völlig aus dem Häuschen“, schrieb sein Freund Robert Fitzgerald später, „er fühlte sich so, als müsse er jede Frau im 52.Stockwerk schwängern.“ Mehrere Dinge waren zusammengekommen: die Arbeit an dem Roman über Knoxville, seine Geburtsstadt in Tennessee, der postum unter dem Titel A Death in the Family den Pulitzerpreis erhalten sollte, stagnierte. Von 'Fortune‘ hatte er immer uninteressantere, seinen Ehrgeiz verletzende Aufträge erhalten. Aber über die notleidenden Pächter zu schreiben, das traf genau seinen Nerv, traf die Wut über soziale Ungerechtigkeit, die er seit Beginn der Depressionszeit immer stärker empfunden hatte. Schließlich sollte Walker Evans die Fotos zu seiner Story beisteuern. Agee stellte Evans haushoch über Margaret Bourke -White, deren Fotos der Unterprivilegierten ihm als Inbegriff liberaler Herablassung vorkamen. Agee idealisierte eine „ehrliche“ Fotografie und sehnte sich danach, in seinem eigenen Schreiben jene unbarmherzige Exaktheit zu erreichen, die Walker Evans‘ Fotografien in seinen Augen auszeichnete. Wie die beiden aufbrachen, nach Oklahoma, dann nach Alabama, wie sie dort schließlich in der Nähe des Gerichtsgebäudes von Sprott, Frank Tingle trafen, der einer von Agees drei „großen Männern“, Fred Ricketts, werden sollte, wie sie die drei Familien kennenlernten und wußten, daß sie mit ihnen gefunden hatten, was sie suchten, das erzählt Agee auch in seinem Buch. Als beide nach zwei Monaten nach New York zurückkamen, hatte die Reportage bereits eine Form und eine Länge, die es 'Fortune‘ unmöglich machten, sie zu publizieren. Agee wurde gebeten, die Story umzuschreiben und zu kürzen. Er weigerte sich. Statt dessen kämpfte er mit seinem Stoff, schrieb und verbesserte und fügte neue Passagen ein, in denen er mehr und mehr über den Auftrag selbst, das schlechte Gewissen, das ihn dabei beschlichen hatte, und die Unzulänglichkeit seiner Mittel, die Wirklichkeit „wahr“ abzubilden, reflektierte. Erst 1937 gab 'Fortune‘ die Rechte an dem Text und an Evans‘ Fotografien frei. Agee unterschrieb einen Vertrag mit Harper & Brothers. Im August 1939 gab er, nachdem er immer neue Fristen hatte verstreichen lassen, das monströs angeschwollene, nur noch in Teilen dokumentarisch, halb nun auch autobiographisch -bekennerische Manuskript beim Verlag ab. Die Stellungnahme des Lektors fiel negativ aus: Die obszönen Stellen mußten gestrichen werden, die Kraut-und-Rüben-Form des Buches wurde moniert, ebenso die labyrinthischen Sätze. Agee, verzweifelt auf einen weiteren Vorschuß angewiesen, wollte diese Änderungen unter der Bedingung vornehmen, daß sein Protest gegen sie dem Buch in gedruckter Form vorangestellt würde. Harper erteilte eine endgültige Absage. Das Buch erschien schließlich im August 1941 bei dem Bostoner Verlag Houghton Mifflin, genau fünf Jahre nach der Reise nach Alabama, zu einem Zeitpunkt, als die Depression niemanden mehr interessierte, John Steinbeck mit seinen Früchten des Zorns das Mitleidspotential der Leser für die Entrechteten ausgeschöpft hatte und die USA in den Zweiten Weltkrieg verwickelt wurden.

Heute gehört dieses Buch zum Bildungskanon eines jeden nordamerikanischen Intellektuellen. Es wird in den USA auf eine Stufe gestellt mit dem Besten von Hawthorne, Melville und Thoreau. Bei uns ist nur ein Teil davon bekannt geworden, in einem abgelösten Kontext: Die Fotografien von Walker Evans. Sie tauchen in Ausstellungen, am Postkartenstand, in Büchern über die Fotografie der dreißiger Jahre immer wieder auf. Evans und Agee hatten Fotografie und Text als Einheit verstanden, die nicht gesprengt werden sollte. Es gibt hyperrealistische Beschreibungen der Pächterhäuser, der Zimmer, der Kleidungsstücke der Mitglieder der drei Familien, die sich direkt auf die Fotografien beziehen. Eines hilft das andere zu entschlüsseln und zu verstärken. Agee wollte, als er sein Buch zu schreiben begann, die Realität so vor den Leser setzen, als würde er sie mit den Linsen seiner Augen ablichten, mit den Mikrophonen seiner Ohren aufnehmen und durch den Filter seines Bewußtseins klären. Er wußte, daß er dieses Ziel nicht mit den Mitteln des traditionellen Journalismus erreichen konnte. In einer erfolglosen Bewerbung für ein Guggenheim-Stipendium hatte er diese Schwierigkeit beschrieben: Der Text „soll eine so erschöpfende Wiedergabe und Analyse persönlicher Erfahrung einschließlich der Probleme des Schreibens und der Kommunikation sein, wie es mir nur möglich ist, und dabei ständig zwei Dinge beachten: alles so akkurat wie möglich zu erzählen und nichts zu erfinden. Dies zieht den völligen Zweifel an 'kreativen‘ und 'künstlerischen‘ wie auch 'reporterhaften‘ Verhaltensweisen und Methoden nach sich und wird voraussichtlich die Entwicklung neuer Formen des Schreibens und der Beobachtung nötig machen“.

Daß Preisen will ich die großen Männer über zwanzig Jahre bei deutschen Verlagen schlummerte, mag mit diesen „neuen Formen des Schreibens“ zu tun gehabt haben, die Agee tatsächlich in seinem Buch entwickelte. Mehrmals scheiterte die Übersetzung. Agees Stil ist von äußerster Eigensinnigkeit: Er schert sich wenig um die Syntax der amerikanischen Sprache; er beharrt auf einer ganz eigenen Zeichensetzung, skandiert und rhythmisiert mit zusätzlichen Kommata und Doppelpunkten seinen Text; mit einer Besessenheit, die man sonst in der Literatur nicht kennt, entwirft er oberlehrerhaft Einteilungen von Häusertypen, Löhnen oder Latzhosenmodellen. Mehrfach bezeichnet er sein Buch mit musikalischen Termini: als Sonate, als Symphonie, in der rhapsodische Exkurse und biblisch-feierliche Aufschwünge abwechseln mit exakten, auch gewollt hölzernen Beschreibungen, die Agee doch immer wieder in andere, „höhere“ Sphären entgleiten.

Agee wollte ein Kompendium des Lebens dieser drei Pächterfamilien schreiben, vom zertretenen Lehmboden im Hühnerhof zum nächtlichen Firmament, von der Baumwollaussaat über das kümmerliche Brot im verdreckten Herd zur Nachtruhe der Welt, vom Verschleiß der Körper bis zum Tod, den er und alle bald sterben müssen. Die „großen Männer“ kämpfen mit all ihrer Kraft gegen ein unwürdiges Schicksal und führen ein ganz und gar „un-großes“ Leben, ausgebeutet von einer fernen, größeren Sphäre, deren Geld und Macht ihnen unerreichbar und unverständlich ist. Das Buch böte ein dumpfes, unerbittliches Universum, gäbe es nicht die Liebe und die Achtung des Autors für die, die er beschreibt. Agee wird angetrieben von einem großen Zorn auf die Gleichgültigkeit seines Landes und das aus seiner Sicht kriminelle Wirtschaft- und Erziehungssystem. Diese Wut ist die Schubkraft seiner Liebe, so wie diese Liebe Anlaß ist für die Zweifel des Autors an seinem Vorhaben und an seiner Person. Er kommt sich wie ein Eindringling vor, bezeichnet sich im Personenregister, das er dem Buch vorausstellt, als „Spitzel, der als Journalist reist“ und Walker Evans als „Gegenspitzel, der als Fotograf reist“. Mit seinen Zweifeln und Selbstzweifeln stopft er, aufrichtig und ungeschickt, den Anfang seines Buches voll, obstruiert ihn fast, macht sich den Leser zum Feind, um in immer wieder neuen Anläufen zu sagen, daß es ihm um eine Wahrheit geht, die er nicht ausmachen kann, und daß die Konstellation, in der er diese Wahrheitssuche antritt, nämlich als Emissär eines kapitalistischen „journalistischen Organs“ und folglich Vertreter einer „Zentrale von Lügen“, die denkbar schlechteste ist.

„Der beste Teil unseres Wissens“, hatte er in einem Vorwort zu seinen Gedichten (1934) geschrieben, „ist nichts als ein Glaube, der Schatten und die Form eines Traums, und alles Anmaßung.“ „Wahrheit“, wenn es sie für ihn überhaupt gibt, ist vielfältig, subjektiv und objektiv, die des Autors und die des Lesers, und von Ding zu Ding verschieden. Deshalb kämpfte Agee in seinem Buch um eine kontrapunktische Verstrebung der starren „verbalen Fotografien“ mit Passagen, in denen die Substanz des Festgehaltenen durch sein überempfindsames, großherziges, schuldbeladenes Bewußtsein gefiltert wird. Er hoffte damit die gebrochenere, kompliziertere Form von Wahrheit zu erreichen, die er noch sah. Aus dem Zusammenspiel vom zweifelnden Moralisten mit dem exakten Beobachter entsteht jene Spannung, die das Buch zusammenhält, ergibt sich die überspannte, christlich -feuchte, pascal-verlorene Sogwirkung seines Textes.

Überhaupt ist der Impetus des ganzen Buches ein religiöser, so wie auch sein Stil eindeutig vom Rhythmus und Staccato der heiligen Schriften beeinflußt ist. Agee hatte als Schüler der St. Andrew High School der Väter vom Heiligen Kreuz ein streng religiös geregeltes Leben geführt. Auch wenn er später allen Doktrinen der Kirche abschwor und keiner besonderen Konfession mehr anhing, so war ihm doch aus dieser Zeit Demut und staunende Ehrfurcht vor den Geheimnissen des Universums, der Existenz und des Lebens geblieben. Dies spürt man in jeder Zeile seines Buches. Die unmenschliche Welt, die es beschreibt, ist eine Welt voller Epiphanien.

Agee selbst dachte, er habe die Absichten, die er mit seinem Buch verfolgte, nicht einlösen können. Er sprach davon, daß Preisen will ich die großen Männer nur Teil eines größeren Werkkontinuums über die Pächterfamilien sein würde. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Aber die amerikanische Literaturkritik hat nach längerem Zögern die Einzigartigkeit dieses Buches verstanden. Die Diskussion entzündete sich an Nebenschauplätzen: Hatte Agees schlechtes Gewissen ihn nicht blind gemacht? Idealisierte er die Pächter und ihre Familien? War er von Ehrfurcht und Bewunderung vielleicht benommen? Doch bewirkt gerade dieser persönliche Furor, der Agees skeptische Intelligenz tatsächlich immer wieder beiseitewischt, die verschrobene Schönheit seiner Prosa. Die Exzesse seines Stils verdichten sich zu einer privaten Mythologie, die einen so sehr berührt, daß man letztlich unkritisch liest und unkritisch liebt wie Agee seine Pächter. Und es kommt noch etwas hinzu: In jedem von uns ist eine Sehnsucht nach verlorener Unschuld und aufgezehrtem Anstand; es ist diese machtvolle Nostalgie, die uns immer von neuem für Agees große Menschlichkeit, seine Trauer, Wut und verzweifelte Wahrheitssuche empfänglich macht. Seinen ersten Gedichtband Permit Me Voyage bestimmte er „für die zu allen Zeiten, die die Wahrheit gesucht haben und die versagten, sie in ihrer Kunst oder in ihrem Leben zu nennen, und die jetzt tot sind.“

James Agee, Preisen will ich die großen Männer, übersetzt von Karin Graf, Verlag Schirmer/Mosel, 548 Seiten mit 62 Tafeln mit s/w Fotos von Walker Evans, 49,80 DM

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