: Ein WAA-Video mit Folgen
WAA-Gegner wegen schweren Landfriedensbruchs zu einem Jahr ohne Bewährung verurteilt / Polizeiliche Videoaufnahmen als Beweismittel ■ Aus Amberg Bernd Siegler
Stuck in Altrosa und Gelb, Kronleuchter und das obligatorische Kreuz über dem Richterstuhl. Amtsrichter Postler kontrastiert bereits nach wenigen Minuten den verspielten Barockstil des Sitzungssaal im Amberger Amtsgericht mit seiner harten Linie. Als der 29jährige Wolfgang G., angeklagt wegen schweren Landfriedensbruchs, versuchter gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung, sich zum vierten Mal bei Eintritt des Gerichts nicht von seinem Platz erhebt, sieht Postler die „Aufrechterhaltung der Ordnung im Sitzungssaal“ gefährdet. Er schließt G. für zunächst 15 Minuten von der Sitzung aus.
G. steht wegen eines Vorfalls vom 16. März 1986 vor Gericht. Damals, zehn Tage nachdem die Hausfrau Erna Sielka nach einem Polizeieinsatz auf dem WAA-Gelände an einem Herzinfarkt gestorben war, zogen tausend WAA-GegnerInnen zum Bauplatz in den Taxöldener Forst. Die Rodungsarbeiten waren im vollen Gange, die Baumaschinen standen umzäunt in einem Camp. Es sollten die bis dahin schwersten Auseinandersetzungen am WAA-Gelände folgen. Neben mehreren Hundertschaften waren zwei Beweissicherungs- und Dokumentationstrupps der Polizei im Einsatz. An diesem Tag soll G. - laut Anklage - mehrfach Steine und ein armdickes, vierzig Zentimeter langes Holzstück in Richtung Polizei geworfen haben. Einziges Beweismittel ist lediglich das vom Landeskriminalamt (LKA) akribisch ausgewertete Videomaterial. „G. nahm dabei billigend die Verletzung von Polizeibeamten in Kauf“, betont Staatsanwältin Mendel. Ob tatsächlich jemand verletzt wurde, kann auch sie nicht beweisen. Das Verfahren, in dem G. vorgeworfen wurde, einen Polizisten mit dem Ausdruck „Memme“ beleidigt zu haben, stellt sie wegen Geringfügigkeit ein.
Bevor der Bundesgrenzschutzbeamte Ertel die Identifizierung von G. aufgrund der Videobänder erklären kann, eskaliert die Situation im Sitzungssaal. Als G. erneut dem Gericht seinen Respekt durch Nicht-Aufstehen verweigert, soll er für eine halbe Stunde ausgeschlossen werden. Der Angeklagte weigert sich. Er wird von zwei Beamten gewaltsam abgeführt, nicht ohne daß ein Beamter seinen Kopf dabei mit voller Wucht an die Sitzungszimmertür knallt. Richter Postler verweigert sowohl die Namensfeststellung des Beamten als auch eine Untersuchung von G. wegen starker Kopfschmerzen durch einen unabhängigen Arzt. G. verlangt daraufhin, vom Rest der Verhandlung ausgeschlossen zu werden. „Wir sind das Gericht, wir reagieren nur“, erklärt ihm Postler. „Allerdings wenn Sie das Gericht beleidigen....“ G. tut ihm den Gefallen, nennt ihn am ersten Tag einen „Knallkopf“ und am zweiten einen „faschistischen Paragraphenhengst“ und wird prompt ausgeschlossen.
Vergeblich hatte Verteidigerin Vöth die 15monatige Verschleppung des Verfahrens gerügt. Vergeblich stellte sie auch die Verhandlungsunfähigkeit ihres Mandanten dar: 15 Monate war er, unter anderem weil er Briefkontakt mit RAF -Gefangenen unterhalten haben soll, „besonderen Sicherungsmaßnahmen“ ausgesetzt gewesen. Zudem befinde er sich seit dem 6. April im Hungerstreik für die Zusammenlegung der politischen Gefangenen. Mit einem Handstreich wischt Postler die Bedenken der Verteidigerin hinsichtlich massiver Konzentrationsschwierigkeiten aufgrund der Haftbedingungen vom Tisch.
Die mehrstündige Videovorführung wird von BGS-Mann Ertel vom „Doku-Trupp“ kommentiert. Zu sehen ist eine Menschenmenge auf dem Hügel gegenüber der Polizeikette, die direkt am Baucamp postiert ist. Verschiedene Gegenstände fliegen auf die Polizisten. Aus Zeitlupeaufnahmen und entsprechenden Vergrößerungen wird ein vermummter Mann mit einem grauen Sweatshirt mit schwarzen Punkten sichtbar. Wenig später erscheint ein Mann mit dem selben T-Shirt unvermummt in erster Reihe auf dem Hügel und fotografiert die Beamten.
Als Ertel vier Monate später bei der Kripo in Amberg hospitiert, kam ihm die Idee, Standbilder der Videoaufnahmen mit etwa 800 Lichtbildern von WAA-GegnerInnen zu vergleichen, die bei früheren WAA-Einsätzen erkennungsdienstlich (ED) behandelt worden sind. Ertel wurde fündig. Auf dem ED-Bild hatte Wolfgang sogar das gleiche Sweatshirt an.
Das Material gelangte zum LKA, wurde dort durch Videos der Bereitschaftspolizei von der gleichen Situation ergänzt und von der Kriminalhauptkomissarin Lorenz ausgewertet. Staatsanwältin Mendel ist begeistert: „Von der Bekleidung, der Statur und dem Bewegungsablauf: Das ist Wolfgang G.“
Angesichts der „Schwere des Vergehens“, der zehn Vorstrafen des Angeklagten (von Trunkenheit im Verkehr bis hin zu Raub) sowie seines Verhaltens vor Gericht, plädiert Staatsanwältin Mendel auf 20 Monate ohne Bewährung. Verteidigerin Vöth beantragt Einstellung bzw. Freispruch, da auf „strafprozessual zulässige Weise keine Identifizierung“ ihres Mandanten möglich gewesen sei. Schon allein die ED -Bilder hätten vernichtet werden müssen, da die entsprechenden Verfahren gegen G. längst mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden seien. Der Amtsrichter schloß sich der Argumentation der Staatsanwältin voll und ganz an. Unter Einbeziehung der inzwischen verbüßten Strafen verminderte er das Strafmaß auf ein Jahr. G. sei ein „gewalttätiger Charakter und Krimineller im klassischen Sinne“. Postler betonte den „generalpräventiven Aspekt“ dieses Urteils. „Unsere Rechtsordnung duldet keine derartigen Gewalttätigkeiten“, betont er. Daß die gleiche Rechtsordnung auf die Möglichkeit eines Schlußworts für den Angeklagten besteht, war für Postler kein Problem. Plädoyer und Urteilsverkündung fanden unter Ausschluß von G. statt.
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