Auf hoher See

■ Die Streiks in der Türkei können das Ende Özals bedeuten

Zur Zeit macht in der Türkei ein Sprichwort die Runde, aus dem bald Realität werden könnte: „Für Kapitän Özal ist das Meer zu Ende.“ Obschon Özal in den letzten Jahren bereits mehrfach das Aus vorhergesagt worden war, hatte er es mit erheblichem taktischen Geschick immer wieder verstanden, Krisen zu umschiffen. Jetzt aber sitzt er in einer nahezu ausweglosen Situation. Zum einen kann selbst Özal nicht mehr behaupten, in der türkischen Bevölkerung noch eine Mehrheit zu haben. Bei den landesweiten Kommunalwahlen im März kam seine ANAP gerade noch auf 21 Prozent. Özal hatte zuvor mit seinem Rücktritt gedroht, er mußte die Erfahrung machen, daß das niemanden mehr beeindruckt.

Jetzt ist ein entscheidender Faktor hinzugekommen: Die seit acht Jahren drangsalierte und geduckte Mehrheit der türkischen Bevölkerung ist nicht länger bereit, die von Özal betriebene Verelendungspolitik länger hinzunehmen. Trotz Streikverbot und Zerschlagung der staatsunabhängigen Gewerkschaften sind mehr als eine halbe Million Beschäftigte aus dem staatlichen Sektor im Ausstand - ein unübersehbares Zeichen, daß Käpt'n Özal die Entwicklung endgültig aus dem Ruder gelaufen ist. Zwar kann er die geforderten Lohnerhöhungen erfüllen, um einer Bewegung, die vor allem seinen Abgang fordert, die Spitze zu nehmen. Damit ist jedoch Özals Wirtschaftspolitik und so die Existenzberechtigung seiner Regierung aus Sicht der ökonomisch dominierenden Fraktion gescheitert. Weigert Özal sich indessen, so steuert er faktisch auf einen Generalstreik zu, den er politisch ebenfalls nicht mehr überleben kann.

Zu allem Überfluß steht der 1.Mai ins Haus, in der Türkei ein Tag von hoher emotionaler Bedeutung. Da 1.Mai -Demonstrationen seit dem Putsch verboten sind, wird es in diesem Jahr unweigerlich zu einer Kraftprobe kommen. Außer den Streikenden haben noch eine Reihe weiterer Organisationen angekündigt, eine Großdemonstration in Istanbul durchzuführen. Erinnerungen an den Mai 1977 drängen sich auf. Damals beauftragte die Regierung Demirel rechtsradikale Provokateure, in die Menge zu schießen. Die folgenden gewaltsamen Auseinandersetzungen lieferten dann den Militärs den Vorwand zum Putsch. Es bleibt zu hoffen, daß Özal aus der Geschichte gelernt hat.

Jürgen Gottschlich