Enger Gürtel, geplatzter Kragen

Chinas Intellektuelle und Studenten wurden von dem Wirtschaftsboom der ersten Reformjahre nicht erfaßt / Jetzt sind sie von der Sparpolitik der Regierung besonders hart getroffen  ■  Von Michael Magercord

Chinas Studenten, die zur Zeit für mehr Demokratie auf die Straße gehen, haben noch einen zweiten Grund zur Unzufriedenheit. Intellektuelle und Studenten des Landes sind die einzige Gruppe, die von dem Wirtschaftsboom der ersten Reformjahre nicht profitieren. Der Ruf des Premiers Li Peng auf dem Volkskongreß vor einem Monat, den „Gürtel enger zu schnallen“, muß ihnen wie Hohn in den Ohren klingen.

Seit dem Beginn der „Politik der Öffnung“ vor zehn Jahren hatte China seinen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Das Wachstum pendelte sich jährlich bei zehn Prozent ein. Nutznießer waren anfänglich die Bauern, später aber vor allem Händler und die städtischen Arbeiter. Erstmals seit dem Bestehen der Volksrepublik kamen sogar ausländische Luxusgüter ins Land und waren für viele nun auch erschwinglich. Während nämlich die Löhne beständig stiegen, wurden die Preise für Nahrungsmittel und Wohnung weiterhin subventioniert und blieben deshalb niedrig. Das Geld wurde frei für den Kauf der neuen chinesischen Statutssymbole: Fernseher und Videorecorder.

Nur eine Gruppe spürte nichts von dem Boom: Die Intellektuellen und Studenten. Als intellektuell gilt in China jeder, der sich nicht mit Handel oder Produktion beschäftigt - Schriftsteller, Professoren, Schauspieler und die große Gruppe der Lehrer. Sie können in ihren Berufen keine zusätzlichen Prämien oder Leistungslöhne einstreichen, die bei den Industriearbeitern schon mehr als die Hälfte ihres monatlichen Gehaltes ausmachen. Obwohl die Akademiker in der staatlichen Propaganda zu den Hätschelkindern der Nation wurden, blieben ihre Taschen leer. Abhilfe soll eine letztes Jahr begonnene Reform im Bereich der Wissenschaft und Künste schaffen. Und auch hier ist das oberste Prinzip der finanzielle Gewinn. Ein Forschungsauftrag soll jetzt nur dann vergeben werden, wenn zu erwarten ist, daß ein einträgliches Patent herausspringt. Ein Theaterensemble muß volle Häuser einspielen, und ein Buch kann nur gedruckt werden, wenn das Thema hohe Auflagen verspricht. Die Intellektuellen helfen sich auf ihre Weise über ihre Engpässe hinweg. Nach der regulären Arbeit gehen viele Lehrer unter die Marktschreier, verdingen sich als Zwischenhändler. Die meisten Studenten aber haben derlei Möglichkeiten nicht.

Als die Kommilitonen vor zwei Jahren zum erstenmal ihre Ansprüche an den Wirtschaftsaufschwung anmeldeten und demonstrierten, da standen sie noch einer ablehnenden Bevölkerungsmehrheit entgegen. Doch die Entwicklung in den vergangenen beiden Jahren ließ auch die Unzufriedenheit unter den Arbeitern und Bauern wachsen.

Mit der Reformpolitik und dem Boom stiegen die Bedürfnisse der Menschen, mit dem zusätzlichen Geld die Nachfrage nach Konsumgütern. Aber das Angebot blieb weit hinter dem „überheizten Konsum“, wie chinesische Wirtschaftswissenschaftler diese ungewohnte Situation charakterisierten, zurück. Die Folge: Inflation. Ein „vernünftiges Preissystem“ sollte an die Stelle der staatlich fixierten Preise treten, in dem marktwirtschaftliche Mechanismen für den Ausgleich zwischen Konsum und Produktion sorgen. Subventionen sollten langsam entfallen. Doch daraus wurde nichts.

Nach der Freigabe einiger Lebensmittelpreise stiegen diese noch höher an. Es kam zu Panikkäufen, die Bankguthaben wurden geplündert, als die Inflation die Zinsen überstieg. Ein Wort machte unter den inflationsungewohnten Chinesen die Runde: Deng ist gut, bei ihm steigen die Löhne, aber Mao war besser, bei ihm waren die Preise stabil. Als es in einigen Betrieben zu Streiks kam, machte die Regierung einen Rückzieher. Die Preisreform wurde im September auf unbestimmte Zeit verschoben. Aus der Einführung „rationaler Preise“ wurde ein Rationierungssystem wie in alten Tagen. Für die wichtigsten Waren gibt es wieder Bezugsscheine, die Preise werden weiterhin künstlich niedrig gehalten. Ein „Bankrottgesetz“, das den Konkurs für defizitär arbeitende staatliche Betriebe regelt und vor drei Jahren beschlossen wurde, wird nun nicht angewandt. Denn dann müßten 300.000 Fabriken schließen, Arbeitslose wären die Folge.

Doch trotz aller wirtschaftlichen Notbremsen, die Chinesen mußten in den vergangenen Jahren erstmals seit der Reform finanzielle Rückschritte erleben. Das Realeinkommen sank nach staatlichen Angaben um immerhin fast 15 Prozent. Davon besonders betroffen sind wieder einmal die Studenten und Intellektuellen. Chinas Elite ist dann auch als ersten der Kragen geplatzt über den engen Gürtel.