: In den USA ist die Abtreibungsfreiheit in Gefahr
Während draußen AbtreibungsgegnerInnen und -befürworterInnen noch einmal mobil machten, begann im Obersten Gericht der Vereinigten Staaten die Anhörung / Verhandelt wird über das verfassungsmäßig garantierte Recht der Frau auf Abtreibung ■ Aus Washington Silvia Sanides
Trauben von Menschen drängten sich zwischen blühenden Azaleen und Tulpen vor den Stufen des amerikanischen Obersten Gerichts. Mit Polizeisperren sorgten die Ordnungshüter am Mittwoch dafür, daß die DemonstrantInnen in sicherer Entfernung von dem Gebäude blieben. Gleich am Morgen waren 27 Personen festgenommen worden. Das ungewöhnlich lebhafte Interesse der AmerikanerInnen galt der einstündigen Anhörung eines Falls zur Abtreibungsfreiheit durch das Gericht.
Seit Monaten haben die Befürworter und Gegner des legalen Schwangerschaftsabbruchs in der Öffentlichkeit auf die Bedeutung des Ausgangs des Falls „Webster gegen Reproductive Health Services“ hingewiesen. Es geht um den Versuch des Bundesstaats Missouri, die Abtreibungsfreiheit in dem Staat einzuschränken. Schwangerschaftsabbrüche sind in den USA in den ersten drei Monaten legal, und im zweiten Trimester dürfen die einzelnen Bundesstaaten nur eingreifen, um die Gesundheit der Schwangeren zu schützen. Dies entschied das Oberste Gericht 1973 im berühmt gewordenen Fall „Roe gegen Wade“. Seither hat das Gericht fast alle Gesetze, mit denen einzelne Bundesstaaten die Abtreibungsfreiheit beschränken wollten, als verfassungswidrig erklärt.
Der jetzt dem Gericht vorliegende Fall weicht von den vorangegangenen nicht ab: Missouri, vertreten durch seinen Obersten Richter William Webster, hat 1986 ein Gesetz eingeführt, das die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in öffentlichen Kliniken auch dann verbietet, wenn die Patientin den Eingriff aus der eigenen Tasche bezahlt. Weiterhin dürfen Angestellte des Gesundheitsdienstes, die Teile ihres Einkommens vom Staat beziehen, während der Schwangerschaftsberatung nicht zur Abtreibung raten; und Ärzte, die einen Abbruch vornehmen wollen, müssen Föten, die zwanzig Wochen oder älter sind, vorher auf ihre Überlebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs testen. Eine private Abtreibungsklinik in Missouri „Reproductive Health Services“ verklagte den Staat erfolgreich wegen illegaler Beschränkung der Abtreibungsfreiheit. Missouri brachte den Fall daraufhin mit Unterstützung des US-Justizministeriums vor das Gericht in Washington. Das Oberste Gericht jedoch hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Drei der neun auf Lebenszeit ernannten Richter sitzen erst seit Beginn der Amtszeit Präsident Reagans auf der Richterbank. Ebenso wie der heutige Präsident Bush hatte Reagan die Abschaffung der Abtreibungsfreiheit zu einem seiner politischen Ziele gemacht. Wie weit diese Politik seine Ernennungen zum Obersten Gericht bestimmte, wird sich jetzt bei der Anhörung zeigen.
„Wir sind aufgeschreckt“
„Etwas Gutes bringt dieser Fall“, stellt Lisa Swanson fest, „wir Frauen sind aus unserer Bequemlichkeit aufgeschreckt worden.“ Swanson, Mitglied der „National Abortion Rights Action League“ (NARAL), einer Organisation, die sich für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit einsetzt, verteilt am vergangenen Mittwoch Flugblätter vor dem Gericht, freut sich über die Menschenmassen und das Aufsehen in den Medien. „Unsere Arbeit ist es, den Richtern klarzumachen, daß die Öffentlichkeit nicht an der Abtreibungsfreiheit rütteln will“, erklärt sie, „auch wenn das Gericht von sich behauptet, es lasse sich nicht von der öffentlichen Meinung, sondern lediglich durch die Verfassung lenken.“ Wie sehr Amerikas Frauen in der Tat aufgeschreckt sind, stellten sie vor zwei Wochen unter Beweis, als sie zu mehreren Hunderttausenden durch die Innenstadt von Washington zogen und für die Beibehaltung der Abtreibungsfreiheit demonstrierten. NARAL hat seit Januar, als bekannt wurde, daß das Gericht den Missouri-Fall hören wird, monatlich 10.000 neue Mitglieder gewonnen. „Das sind mehr als wir im ganzen vergangenen Jahr bekommen haben“, kommentiert Swanson.
Doch auch die AbtreibungsgegnerInnen haben im Laufe der vergangenen Jahre Zuwachs bekommen. Sie sind vor den Stufen des Gerichts in der historischen Stunde am Mittwoch ebenfalls vertreten. Mit Fotos von Föten fordern sie „Schutz für das ungeborene Leben“. Ein paar Schritte weiter zeigt das Foto einer am Boden liegenden, verbluteten nackten Frau, wie schutzlos Frauen den Engelmachern vor der Legalisierung der Abtreibung ausgeliefert waren. „Die Frauen unter den „pro lifern“ (für das Leben) gehören oft streng fundamentalistischen Kirchen an, die ihre Schäfchen in die Bewegung gegen die Abtreibungsfreiheit lenken“, analysiert Swanson ihre Gegnerinnen. „Viele von ihnen haben selbst abgetrieben. Wegen ihrer konservativen Erziehung leiden sie unter Gewissensbissen und wenden sich dann der Anti -Abtreibungsbewegung zu.“
Statistiken über Abtreibungen in den letzten Jahren geben ihr recht: Über fünfzehn Prozent der Frauen, die abtreiben, bezeichnen sich als wiedergeborene Christen und sind Mitglied einer fundamentalistischen Kirche. An den konservativen Universitäten der Südstaaten hat die „pro -life„-Bewegung viele UnterstützerInnen, doch ist die Abtreibungsrate unter den Studentinnen nicht niedriger als im Rest der USA. Die „pro-lifer“ sind zuversichtlich. „Auch wenn das Gericht dem Staat Missouri nur in einigen Punkten recht gibt“, so James Bopp von dem 'National Right to Life Committee‘, „dann ist das ein Sieg.“
Richterin kann den Ausschlag geben
Dann nämlich werden andere Bundesstaaten nachziehen und ebenfalls Gesetze zur Beschränkung der Abtreibungsfreiheit erlassen. Ein Flickenteppich unterschiedlichster bundesstaatlicher Abtreibungsgesetze könnte entstehen wie in der Zeit vor 1973: Damals zum Beispiel waren Abtreibungen legal in New York, verboten in New Hampshire, legal in Mississippi nach einer Vergewaltigung. Georgia erlaubte Frauen abzutreiben, die beweisen konnten, daß ihre geistige Gesundheit in Gefahr ist; in Kalifornien durfte nach Inzest abgetrieben werden, nicht aber, wenn der Fötus schwer geschädigt war...
Ob zukünftig ein solcher Flickenteppich in der Abtreibungsgesetzgebung wieder entstehen kann, hängt von der für Anfang Juli erwarteten Entscheidung des Gerichts ab. Amerikas Frauen müssen auf ihre Schwester auf der Gerichtsbank setzen: Sandra Day O'Connor, die erste Frau, die je ins Oberste Gericht berufen wurde, ist voraussichtlich das Zünglein an der Waage bei der Entscheidung. Ihr zur Seite sitzen vier stramme Befürworter und vier stramme Gegner der Abtreibungsfreiheit.
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