: „LIEBEN SIE GOETHE?“
■ Die „Geniereise“ von Christa Schmidt in der Sendung „Passagen“ am morgigen Sonntag
„Eins steht fest. Er wurde in Frankfurt am Main im August 1749 im Zeichen der Jungfrau geboren. Daß er im März 1832 in Weimar gestorben ist, muß hingegen ein Irrtum sein, auch wenn es schwarz auf weiß in jedem Lexikon nachzulesen ist.
Wir schrieben nämlich das Jahr 1979, als ich ihm das erste Mal begegnete. Und ich muß sagen, für seine 230 Jahre war er ausgesprochen lebhaft.
Nein, Liebe auf den ersten Blick war es nicht, auch nicht Liebe auf den ersten Satz, und dennoch ist mir unser erster Tag noch gegenwärtig.
Es war an einem Sonntag. Es muß an einem Sonntag gewesen sein, denn wir konnten den ganzen Tag im Bett verbringen...“
So beginnt die Erzählung „Geniereise - oder Erfahrungen mit einem Dichter“, die ich in einem Rutsch in der U-Bahn gelesen habe. Und wenn mich nicht die schrille Stimme im Endbahnhof Steglitz „Alles Aussteigen“ aus den Träumereien gerissen hätte, ich wäre mit Goethe bis in die Ägäis gekommen, wohin der alte Mann der Erzählerin gefolgt ist.
Bevor es so weit war, gelang es der Autorin, mich in die Realität ihrer Liebesgeschichte mit dem alten Mann einzubeziehen, weil mir das alles so plausibel erschien. So wie sie erzählt, was die Frauen damals von ihm sagten, was er sie sagen ließ. So wie er erzählt, was heute nicht mehr genialisch ist: “...wenn einer zu Fuße, ohne recht zu wissen warum und wohin, in die Welt, so hieß dies eine Geniereise, und wenn einer etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen unternahm, ein Geniestreich...“
Ihre Begegnungen mit Goethe, die man auch als Kopfreise bezeichnen könnte, sind zwar durchsetzt mit Formulierungen von „Goethe in allen Lebenslagen“, wenn sie in den Flieger steigt: „Ja, wäre nur ein Zaubermantel mein! Und trüg er mich in fremde Länder...“, aber wenn das Traumgebilde eines Morgens auch dort wieder erscheint, ist ihr fortgesetzter Dialog über die Wirkungen von Literatur so „natürlich“ wie seine Sehnsucht nach Ulrike, die er liebend gerne am Nacktbadestrand aus dem Wasser hätte steigen sehen.
Wenn Christa Schmidt in ihrer Erzählung vielerlei eigene sehr persönliche Erfahrungen hat einfließen lassen, so ist es ihr darüber hinaus gelungen, auf jemanden aufmerksam zu machen, der vor 240 Jahren gelebt hat und immer noch sehr lebendig zu sein scheint. Man wird ihn noch mal wieder lesen müssen, wenn man die „Passagen“ gehört hat.
Qpferdach
„Geniereise“, Sonntag 10-11 Uhr, SFB III.
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