: Lehnstuhl-Reisen: "Der große Winter"
■ Ismail Kadare
Das Unheil kündigt sich lange vorher an. Durch einen Sturm, der zwei Tage lang in Tirana wütet, Ende September, viel zu früh im Jahr. Und durch den kaum merklichen Ausdruck des Kummers im Gesicht Enver Hoxhas, den ein alter Fotolaborant auf den noch nassen Abzügen entdeckt. „Der große Winter“ hat begonnen.
Ismail Kadare, geboren 1936 in Gjirokaster, ist für Albanien so etwas wie ein Chronist, der politische Entwicklungen penibel verfolgt und, wenn sie längst abgeschlossen sind, ein Buch darüber schreibt. Keinen trockenen Kommentar, keine sezierende Abhandlung, sondern die Geschichte der Menschen, die den Einfluß der Politik in ihrem Leben spüren.
Der historische Hintergrund von Der große Winter ist schnell erzählt: 1961 brach Albanien die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab; vorausgegangen waren jahrelange Streitereien um die reine Lehre. Der große Bruder, bisher für Albanien einer der wichtigsten Handelspartner, rächte sich mit einem Wirtschaftsboykott, und das Land geriet in eine schwere Krise.
Hauptfigur des Romans ist Besnik, ein junger Journalist, der Enver Hoxha als Dolmetscher zu seinem letzten, alles entscheidenden Treffen mit Nikita Chruschtschow nach Moskau begleitet. Wie Besnik an den Lippen der beiden Staatschefs hängt und die Verantwortung für den Ausgang des Treffens auf seinen Schultern lasten fühlt; wie er, zurück in Tirana, sich immer seltener bei seiner Verlobten meldet und von Heirat nichts mehr wissen will - „Eine Hochzeit in dieser Zeit jetzt... kommt mir irgendwie vor... wie etwas Kleinliches“ - so, wie Kadare all das erzählt, hätte keine der beteiligten Personen anders handeln können.
In Frankreich gehört Ismail Ka dare zu den bekanntesten ausländischen Autoren der Gegenwart. Seit dem vergangenen Jahr ist er korrespondierendes Mitglied der Academie Fran?aise. In bundesdeutschen Buchläden steht Kadare noch bei den „Exoten“. Immerhin sind drei seiner Bücher auf Deutsch zu haben:
„Der große Winter“, erschienen in Tirana 1973, Neuer Malik-Verlag 1987, 39,80 DM.
„Der General der toten Armee“, Tirana 1968, Neuer Malik Verlag 1988, 36 DM, ist die Geschichte zweier Italiener, eines Generals und eines Geistlichen und spielt in den sechziger Jahren. Die beiden sollen die Gebeine der italienischen Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs in Albanien gefallen sind, exhumieren und nach Italien überführen lassen. Mit der Zeit beginnt der General am Sinn des Unternehmens zu zweifeln, während der Priester weiter daran glaubt.
In „Chronik in Stein“, Tirana 1971, Residenz-Verlag 1988, 32 DM, schildert Kadare seine Kindheit in Gjirokaster, einer „merkwürdigen“ Stadt, in der „alles alt und aus Stein gehauen“ war. Gjirokaster sieht heute noch so aus wie in Kadares Jugend, weil die ganze Stadt unter Denkmalschutz steht. Allein deshalb lohnt es sich, die Steinchronik mit auf eine Albanienreise zu nehmen - die Geburtsstadt von Ismail Kadare und Enver Hoxha gehört zum Standardprogramm.
Auch wenn es um albanische Partisanen geht oder um die Rededuelle, die sich Enver Hoxha mit Nikita Chruschtschow liefert: Die Bücher des albanischen Starautors Ismail Kadare sind keine billige Propaganda für Albanien und seinen Sozialismus - so etwas wird in Tirana natürlich auch gedruckt -, sondern brillant geschriebene Romane.
Christine Tsolodimos
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