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Ist Özals Krisenpolitik am Ende?

Der türkische Regierungschef hat sein Konto überzogen / Die Verelendungspolitik trifft auf massiven Widerstand / Die Antwort heißt staatliche Gewalt / Strategie der Militärs völlig offen  ■  Von Jürgen Gottschlich

Berlin (taz) - Vor einem Jahr noch endeten in der Türkei Gespräche über die aktuelle politische Situation mit einem resignierten Schulterzucken: „Sicher, die Lage ist beschissen, aber was soll man machen. Zu Özal gibt es doch keine Alternative.“ Die Frage nach der Alternative zum Regierungschef ist in der Türkei auch heute noch nicht einfach zu beantworten, doch die gesellschaftliche Lähmung ist plötzlich wie weggewischt.

Seit zwei Wochen dominieren Bilder des Aufbegehrens die türkischen Gazetten, werden die Anti-Streik- und Anti -Demonstrationsgesetze massenhaft unterlaufen. Anlaß sind die bevorstehenden Tarifverhandlungen für die staatliche Werft-, Metall- und Lebensmittelindustrie. Mit dem durchschnittlichen Monatslohn eines Facharbeiters von umgerechnet rund 120,-DM können die laufenden Preiserhöhungen auch für Grundnahrungsmittel und eine Inflation von etwa 80 Prozent nicht mehr finanziert werden. Allein die Mieten sind in den städtischen Ballungszentren in den letzten Jahren so drastisch gestiegen, daß sie für Kleinfamilien praktisch unerschwinglich geworden sind und eine Rückkehr zur Großfamilie auf engstem Raum erzwingen.

Ursache der Misere ist eine von Özal bereits 1980, ein halbes Jahr vor dem Militärputsch definierte monetaristische Wirtschaftspolitik, die seitdem mit unnachgiebiger Härte durchgesetzt wird. Schon der Putsch im September 1980 diente unter anderem der Realisierung dieser Politik, indem die Militärs die gesamten staatsunabhängigen Gewerkschaften brutal zerschlugen und damit die Voraussetzungen für das Lohndiktat von oben schufen. Seitdem sind die Realeinkommen der lohnabhängigen Bevölkerung um 50 Prozent gesunken, hat die allgemeine Verarmung selbst den ehemaligen Mittelstand an den Rand des Existenzminimums gebracht. Bislang hat Özal diese Entwicklung vor allem mit zwei Instrumenten gesteuert: Der staatlich gelenkte Gewerkschaftsdachverband Türk-Is kontrollierte die Betriebe und funktionierte als Frühwarnsystem, um drohende Ausstände im Keim zu ersticken.

Als Alternative zum Elend im Diesseits bot Özal die Hoffnung auf das islamische Paradies an. Unter der Regierung Özal wurde der bis dato streng laizistische Staat systematisch in Richtung einer weitreichenden Islamisierung gedrängt. Damit erlebten die über Jahrzehnte in den Untergrund gedrängten islamischen Sekten einen ungeahnten Aufschwung, der sicher dazu beitrug, die soziale Bewegung des Landes über einige Jahre hinweg in die von Özal gewünschte Richtung zu kanalisieren.

Jetzt steht Özal vor einem doppelten Dilemma. Zum einen wird er die Geister, die rief, nicht mehr los. Die landesweiten Kommunalwahlen im März haben gezeigt, daß die islamische Wohlfahrtspartei den größten Gewinn aus der Reislamisierungspolitik zieht und Özals Mutterlandspartei weiter nach unten drückt. Zum anderen ist jetzt erstmals nach acht Jahren auch die Türk-Is nicht mehr in der Lage, die Arbeiter der staatlichen Betriebe länger hinzuhalten. Für die in wenigen Monaten bevorstehenden Wahlen zur Führung der Türk-Is muß Özal befürchten, daß die Gewerkschaftsspitze durch Leute besetzt wird, die auf Konfrontationskurs gehen werden.

Damit ist das Instrumentarium Özalscher Krisenpolitik erschöpft. Vielleicht gelingt es ihm in den nächsten Wochen, mit dem am 1. Mai vorgeführten Kurs offener Repression seinen drohenden Sturz zu verhindern.

Doch diese Strategie birgt für jeden zivilen Politiker in der Türkei ein enormes Risiko: Den Einsatz des Militärs übernehmen die Generäle lieber selbst. Zivile Regierungen werden in einem solchen Fall erst einmal aus dem Weg geräumt.

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