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Mit der Giftgaswolke begann das Elend

Die Bhopal-Opfer leiden weiter / 3.400 Menschen sind an dem Giftgas gestorben, 40.000 bleiben für den Rest des Lebens behindert / Der Verursacher, der Chemie-Multi „Union Carbide“, hat den ersten Prozeß gewonnen - die amerikanische Muttergesellschaft muß nicht zahlen / Die meisten Opfer warten noch immer auf Entschädigung  ■  Aus Bombay Rainer Hörig

„Seit jener schrecklichen Nacht im Dezember 1984 besteht mein Leben nur aus Krankenhausbesuchen. Am gleichen Tag noch starb meine Mutter, und mein Vater siecht seither im Bett dahin. Ich kann ohne fremde Hilfe nicht einmal gehen. Seit vier Jahren huste ich, als wolle die Lunge aus dem Leib springen. Nur in den seltenen Momenten, wenn der Atem normal funktioniert, fühle ich, daß ich lebe. Sobald die Erstickungsanfälle wieder einsetzen, hört alles Denken auf, und ein höllischer Schmerz läßt mich den Tod erahnen.“

Der Taxifahrer Kailash Pawar hatte sich aus Angst mit der ganzen Familie in seinem Haus nahe der Pestizidfabrik eingeschlossen, als am 3. Dezember 1984 die Giftgaswolken über Bhopal zogen. Seine Worte spiegeln das tägliche Leid tausender Menschen wider, die auch nach viereinhalb Jahren noch an den Folgen der Katastrophe zugrunde gehen. Kailash Pawar hatte während unzähliger Krankenhausaufenthalte mehr als 1.500 Spritzen erhalten. Im vergangenen März setzte er seinen Qualen ein Ende und verbrannte sich selbst.

„Union Carbide - Mörderbande!“ „Die Schuldigen müssen hängen“, so ruft die Menge vor Indiens höchstem Gericht in New Delhi. Insgesamt 29 Organisationen, Gewerkschaften, Frauenverbände, Studentenvereinigungen, Bürgerrechtsgruppen, die in der „Hilfsorganisation für den Kampf der Bhopal-Gas -Geschädigten“ (BGPSSS) zusammengeschlossen sind, haben den 19.April zum „Nationalen Protesttag gegen den Bhopal -Vergleich“ erklärt. In Bhopal, Bombay, New Delhi und anderen Großstädten machen Protestzüge Front gegen den am 14.Februar vom höchsten Gericht verkündeten Vergleich zwischen der indischen Regierung und dem amerikanischen Chemie-Multi. Die DemonstrantInnen wissen sich von vielen Parlamentsabgeordneten, Aktionsgruppen und Teilen der Presse unterstützt.

„Der Multi hat gewonnen, und das indische Volk ist der Verlierer“, kommentierte P.N. Bhagwati, bis Dezember 1986 selbst vorsitzender Richter am höchsten Gericht. Die Anwälte der indischen Regierung hatten als Vertreter der Opfer für die Summe von 470 Millionen Dollar auf alle weiteren Ansprüche und Klagen gegen „Union Carbide“ verzichtet. „Der gerichtliche Vergleich setzt den Wert eines indischen Menschenlebens unverschämt niedrig an“, meint Ex-Richter Bhagwati, „aber wir sind ja auch nur Braune und Schwarze, keine privilegierten Weißen!“

Der Multi hat sich freigekauft

Schlimmer noch als die klägliche Abfindung empfinden die Betroffenen jedoch die Tatsache, daß sich „Union Carbide“ damit ein für allemal von Forderungen für alle vergangenen und zukünftigen Todes- und Krankheitsfälle und sogar von strafrechtlicher Verfolgung freigekauft hat. Das höchste indische Gericht hat mit diesem Vergleich einen Präzedenzfall geschaffen: Die Muttergesellschaft „Union Carbide USA“ ist für die kriminellen Schlampereien ihrer indischen Tochter nicht zur Rechenschaft gezogen worden ein Freibrief für die Multis in aller Welt, gefährliche Produktionsverfahren in arme Länder der südlichen Hemisphäre auszulagern, ohne sich um die Konsequenzen kümmern zu müssen. „Union Carbide USA“ hat denn auch von Anfang an jede Verantwortung für die Gaskatastrophe in Bhopal bestritten. Die Anwälte des Multis beschuldigten statt dessen nicht näher identifizierte „Saboteure“ unter den indischen Arbeitern, das Austreten des tödlichen MIC-Gases verursacht zu haben. Ihre Verfahrensstrategie zielt darauf ab, um jeden Preis eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung zu vermeiden.

Rajiv Gandhi soll büßen

„Warum nur hat die Regierung alle Rechte zur Vertretung der Giftgasopfer übernommen, wenn sie uns nun für ein Handgeld an den Multi verkauft? In diesem Jahr wird ein neues Nationalparlament gewählt, und wir werden Rajiv Gandhi die Quittung präsentieren“, schimpft Mubarak Ali, der nur einen Steinwurf von der Unglücksfabrik entfernt wohnt. Kurz nach Veröffentlichung des Vergleichs erhob sich eine landesweite Protestwelle. Aktivisten stürmten mit Besen und Scheuerlappen das Gerichtsgebäude, um es von dem „Schleier der schmutzigen Vereinbarung“ zu reinigen. Andere drangen in die Geschäftsstelle von „Union Carbide“ in New Delhi ein und sprühten ihren Protest mit Farbe an Wände und Türen. Einige Scheiben gingen zu Bruch. Werbetafeln für „Carbide„-Produkte wurden übermalt.

Mittlerweile haben auch die höchsten Richter kalte Füße bekommen. Sie gaben der Klage von BürgerrechtlerInnen statt und ordneten Anfang April die Wiederaufnahme des Verfahrens durch eine andere Kammer des höchsten Gerichts an. Die dortigen Richter werden nicht nur die Rechtmäßigkeit des im Februar geschlossenen Vergleichs zu beurteilen haben, sondern auch die Verfassungsmäßigkeit des sogenannten „Bhopal-Gesetzes“ prüfen. Dieses 1985 von der Regierungsmehrheit im Nationalparlament verabschiedete Gesetz überträgt allein der Zentralregierung das Recht, die Interessen der Opfer zu vertreten. Damit wurde den Betroffenen jede Möglichkeit der Klage gegen „Union Carbide“ genommen und die Arbeit der Bürgerrechtsgruppen in Bhopal auf „Erste Hilfe“ beschränkt. Durch die Wiederaufnahme des Verfahrens ist auch eine strafrechtliche Verfolgung des Chemie-Multis wieder möglich geworden - ein wichtiger Etappensieg für die Protestfront.

Betrug mit Entschädigungen

Wann endlich die Opfer eine Entschädigung erhalten, steht aber weiterhin in den Sternen. Indische Gerichte arbeiten bekanntlich im Schneckentempo. Das nun zur Verhandlung anstehende „Bhopal-Gesetz“ von 1985 regelt auch die Modalitäten für Entschädigungsleistungen. Nach der Gerichtsentscheidung muß eine gewaltige Verwaltungsmaschinerie in Gang gesetzt werden, um die knapp 600.000 bisher eingegangenen Anträge zu bearbeiten. Zur Zeit der Gaskatastrophe lebten 680.000 Menschen in Bhopal. Also ist offensichtlich, daß viele die Gelegenheit ausnutzen, um sich durch gefälschte Vorgaben zu bereichern. Bekannt wurde der Fall des Richters G.S. Patel, der den Vorsitz im Entschädigungsstreit zwischen Regierung und Chemiemulti führte, bis entdeckt wurde, daß er insgeheim selbst einen Antrag auf Entschädigung gestellt hatte, ohne von der Vergiftung betroffen zu sein. Die wirklichen Opfer allerdings sind meist Slumbewohner, die sich Rechtsanwälte und juristische Tricksereien sowieso nicht leisten können.

In Bhopal geht man heute offiziell von 3.400 Todesfällen, 10.000 Schwerbehinderten, 30.000 Leichtbehinderten und 150.000 Leichtverletzten als Folge der Gaskatastrophe aus. Eine eigens geschaffene Behörde, das Amt für Entschädigungsforderungen, wird die Anträge aufgrund von ärztlichen Attesten und Zeugenaussagen zu prüfen haben. Amtsleiter Mulye jedoch klagt über mangelnde Ausstattung: „Wir besitzen keinerlei Infrastruktur, um die Arbeit zu beginnen. Selbst wenn niemand Einsprüche gegen unsere Entscheidungen erhebt, werden wir mindestens zwei Jahre brauchen, um alle Anträge zu bearbeiten.“

Wieviele Menschen also werden noch an den Folgen der Gasvergiftung sterben müssen, bevor ihnen angemessene Hilfe zuteil wird? Bisher hat die Regierung lediglich 1.500 Rupien, nicht einmal 200DM, an nachweisbar Geschädigte ausgezahlt - eine Summe, die in vielen Fällen nicht einmal zur Bezahlung der Krankenhausbehandlung ausreicht. Der Taxifahrer Kailash Pawar hat diese „Soforthilfe“, wie viele andere, nur erhalten, nachdem er den zuständigen Beamten mit 200 Rupien „geschmiert“ hatte.

Die indische Regierung, die in Fällen wie Südafrika oder Palästina gerne als Anwalt der Entrechteten auftritt, hat sich in Bhopal gründlich blamiert. Sie hat nicht nur vor dem mächtigen Multi „Union Carbide“ geduckt, sondern verhindert auch durch eigenes Unvermögen rasche Hilfeleistung für die Betroffenen. Das Leid der vielen tausend Gasopfer wird Jahre dauern. Hunderte werden noch an den Folgen der Katastrophe sterben. Nirgendwo sonst, so scheint es, ist ein Menschenleben billiger als in Indien.

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