Ende der Fahnenstange

■ Das Kreuzberger Manifest zur Straßenschlacht am 1.Mai

Der Solidaritätsbonus ist aufgebraucht. Die dritte schwere Straßenschlacht zum 1.Mai in Folge hat auch all jenen den Rest gegeben, die bisher aus der bewährten Sozialarbeiterperspektive mühsam nach Verständnis und nach sozialen und politischen Ursachen der Kreuzberger „Revolte“ gesucht hatten. Doch alle halsbrecherischen Rechtfertigungsversuche für den großen Trümmerhaufen zwischen Kottbusser Tor und Lausitzer Platz sind diesmal passe. Nicht einmal die „Bullen“ lassen sich noch als Provokateure funktionalisieren. Ende der Fahnenstange. Gelernt haben nicht nur die Sozialarbeiter. Gelernt haben offenbar auch jene, die bisher jede Kreuzberger Straßenschlacht als Etappe auf dem Weg zur Weltrevolution betrachtet haben.

Die Straßenschlacht von Kreuzberg war keine politische Revolte, sondern eine Fiesta furiosa für Suffkis, Hirnis und Randalos, die bei steigendem Hormonpegel mal wieder die Sau rauslassen mußten. Das Ganze war gut verpackt in linksradikale Sprechblasen und eine revolutionäre Mai-Demo. Doch mit politischem Handeln, mit politischer Militanz, mit einem ernsthaften, strategischen und vor allem vermittelbaren Vorgehen hat das ganze Nullkommanull zu tun.

Wer im SFB den Originalton von Akteuren der Kreuzberger Nacht gehört hat, konnte den dichten Nebel in den Köpfen nicht übersehen. Inhaltlich schachmatt. Ein 17jähriger wußte, daß er „irgendwie dagegen“ ist, daß irgendwie ein paar Bullen da waren und so, irgendwie flogen ein paar Klamotten, und am Ende wurde der eigene Kiez irgendwie plattgemacht - samt Tante-Emma-Läden, Kleinwagen und Telefonhäuschen.

Das Kreuzberger Manifest ist der erste Versuch, aus der Szene heraus gegen „den Ausbruch der Gewalt“ Stellung zu beziehen. Es zwingt auch diejenigen zur Auseinandersetzung, die bisher als Voyeure und Krawalltouristen die Kulisse zum alljährlichen Showdown abgaben. Die Handlungsbereitschaft im Stadtteil ist da. Vom Alternativbäcker bis zum militanten Internationalisten: die Leute haben die Schnauze gestrichen voll. Es muß endlich klargemacht werden, daß das Kaputtschlagen eines Stadtteils nichts mit politischem Protest zu tun hat. Wenn das klar ist, dann kann man wieder über soziales Elend, Drogen, Alkohol und Perspektivlosigkeit in Kreuzberg reden.

Manfred Kriener