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„...von der bayerischen Vorschrift abgesetzt“

Der in Memmingen angeklagte Frauenarzt Dr. Horst Theissen fühlt sich ganz seinen Patientinnen verpflichtet  ■ P O R T R A I T

Nur einmal äußerte sich der Angeklagte. Am ersten Verhandlungstag, am 8. September 88, zu Beginn des Prozesses, der dann acht Monate dauern sollte, ließ sich Horst Theissen (51) auf die Fragen des Vorsitzenden Richters ein. Seit 17 Jahren arbeite er in Memmingen als Frauenarzt. Nein, er komme nicht aus dem Allgäu, er sei nahe der holländischen Grenze aufgewachsen. Und als der Vorsitzende Richter ihn fragt: „Abtreibung war also eine Spezialität von Ihnen?“, antwortet er klar mit: „Ja.“

Horst Theissen ist keiner, der sich mit lauten Tönen seine Wichtigkeit beweisen muß. Nach außen ist er zurückhaltend. Deshalb nimmt er die Aktionen und Reaktionen der anderen, Schwingungen und Atmosphären um so sensibler auf. Auf die halb hilflose, halb zynische Frage des Richters nach seiner „Spezialität Abtreibung“ geht er deshalb ernsthaft und ausführlich ein: „Ich habe mich abgesetzt von der bayerischen Vorschrift, wonach nur stationäre Abbrüche erlaubt sind.“ Als Arzt sei er verpflichtet, die für seine Patientinnen schonendste Methode anzuwenden: den ambulanten Eingriff nach der Absaugmethode. Er habe ihnen nicht zumuten wollen, ins weit entfernte München zu fahren. Wenn er sich von ihrer Notlage überzeugt hatte, habe er - auf das flehentliche Bitten seiner Patientinnen hin auch auf den Nachweis über die soziale Beratung und die Indikationsstellung eines anderen Arztes verzichtet.

Horst Theissen geht es um die Verantwortung vor sich selbst. Was das Gesetz und bayerische Spezialvorschriften ihm diktieren wollten, interessierte ihn wenig. Einmal glaubte er, seine Haltung sei gut aufgehoben bei den Liberalen. Aber als die FDP sich zu den Christdemokraten wandte, trat Theissen aus. Heute, nach über 60 langen Prozeßtagen ist Theissen sehr still geworden. Er ist müde von den ewig gleichen

dümmlichen Attacken der Staatsanwälte und den Ritualen dieses Mammutprozesses. Interviews gibt er nicht mehr, weil seine Worte von den Staatsanwälten gegen ihn verwendet werden. Und weil er es satt hat, die ewig gleichen Fragen zu hören, auf die er die ewig ähnlichen Antworten geben soll.

Aber ein mutiger Gegner des Paragraphen 218 und der Schulmedizin ist er geblieben. Als ihn sogenannte Lebensschützer und der Fernsehmoderator Franz Alt in einer Talkshow des Hessischen Fernsehens provozieren, hält er nicht zurück: Abtreibung gehöre zum Leben wie der Tod, er wolle als Arzt das rechtliche Instrumentarium, um abtreiben zu können, „ohne Wenn und Aber“. Als ich ihn frage, ob er das nur in Rage gesagt habe, verneint er. Er halte sich nur im Moment wegen des Prozesses mit öffentlichen Äußerungen zurück.

Für Theissen hat dieser Prozeß nicht nur eine politische und persönliche Dimension, sondern auch eine „philosophische“, wie er mir - zuerst zögernd - erzählt. „Was meinen Sie damit?“ frage ich. Mit diesem Prozeß sei für ihn die Frage gekommen, erläutert Horst Theissen: „Was kann ich aus meinem Leben noch machen?“ Nun sei er herausgeworfen aus seinem satten Memminger Bürgerleben: „Ohne diesen Tritt in den Hintern hätte ich es sonst wahrscheinlich nicht geschafft.“

Seine Frauenarztpraxis hat er Anfang dieses Jahres geschlossen. Bei zwei bis drei Verhandlungstagen pro Woche blieb ihm nicht mehr genügend Zeit, um einen ordentlichen Praxisbetrieb aufrechtzuerhalten. Noch hat er eine Naturheilpraxis im Dorf Grönenbach, wenige Kilometer von Memmingen entfernt.

Wie immer das Urteil in diesem Prozeß ausfallen mag - Horst Theissen wird nie mehr als Frauenarzt arbeiten. Falls er seine Approbation als Arzt behält, wird er sich vielleicht ganz auf Naturheilmethoden spezialisieren. Oder er wird das Städtchen im schwäbischen Allgäu verlassen. Auf jeden Fall aber wird er nie mehr zurückkehren zur braven, ehrenwerten Gesellschaft von Memmingen.

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